Ulm – Seit etwas mehr als einem Jahr hält das Coronavirus Sars-CoV-2 die Welt gefangen. Zu Beginn der Pandemie dachten alle, Sars-CoV-2 würde sein Zerstörungswerk ausschließlich in den Atemwegen und der Lunge ausführen. Ein Irrtum. Mittlerweile haben klinische Erfahrung und Forschung unser Verständnis des Virus und seiner potenziellen Angriffsziele im menschlichen Körper deutlich verändert.

Manche Zellen in menschlichen Organen haben Coronavirus-Rezeptoren. Dadurch kann das Virus sein genetisches Material in die Zelle einschleusen und sie infizieren.
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"Das Virus ähnelt einem Heuschreckenschwarm, der das Lungengewebe zerstört und zum nächsten Feld weiterzieht", sagt Alexander Kleger, Heisenberg-Professor für Molekulare Onkologie und Oberarzt an der Klinik für Innere Medizin I am Universitätsklinikum Ulm.

Dazu gehören das Herz-Kreislauf-System und das Nervensystem genauso wie der Verdauungstrakt und der Stoffwechsel. Heute weiß man, dass Zellen in einigen Organen den Coronavirus-Rezeptor ACE2 und das Enzym TMPRSS2 auf ihrer Oberfläche tragen. Sind beide vorhanden, kann das Virus die jeweilige Zelle infizieren, um sein genetisches Material einzuschleusen und die Produktionsmaschinerie der Zelle komplett für die eigene Vermehrung zu nutzen, bis die Zelle zugrunde geht.

Bauchspeicheldrüse als Eintrittspforte für Sars-CoV-2

Früh fiel auf, dass bei schweren Covid-19-Verläufen häufiger Symptome auftreten, die auf einen Insulinmangel hindeuten – auch bei Nicht-Diabetikern. Bei Diabetikern kann sich in Folge einer Covid-19-Erkrankung der Zuckerstoffwechsel weiter verschlechtern. Das machte Kleger und seine Mitarbeiter hellhörig. Kann das Sars-CoV-2-Virus auch die Bauchspeicheldrüse infizieren, und falls ja, mit welchen Folgen?

Gemeinsam mit dem Ulmer Virologen Jan Münch vom Institut für Molekulare Virologie und seinem Team suchten sie nach einer Antwort. Herausgekommen sind Studienergebnisse, die belegen, dass Sars-CoV-2 insbesondere bei schweren Krankheitsverläufen auch die Insulin-produzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse infizieren kann. Die Ergebnisse wurden kürzlich im Fachmagazin "Nature Metabolism" veröffentlicht.

Erste Untersuchungen der Forscher zeigten, dass auch die Betazellen in der Bauchspeicheldrüse tatsächlich die für die Virusinfektion notwendige Eintrittspforte auf ihrer Oberfläche tragen. An noch "lebendem" Bauchspeicheldrüsengewebe konnten sie zeigen, dass das Coronavirus das Türschloss der Betazellen knacken und sich dort vermehren kann.

Funktion von infizierten Betazellen stark gestört

Dieser Nachweis ist wichtig. Er belegt eine aktive Infektion der Betazellen durch das Virus. Betazellen speichern normalerweise das Insulin in kleinen Granula und setzen es bei Bedarf frei. Elektronenmikroskopische Aufnahmen zeigten nun aber, was das Coronavirus auf Zellebene anrichtet: Die Anzahl der Insulin-Granula ist in infizierten Betazellen deutlich reduziert.

Bei Versuchen, infizierte Betazellen mit Glukose zu stimulieren, setzen sie deutlich kleinere Insulinmengen frei als gesunde Betazellen. Das Fazit: Die Funktion der infizierten Betazelle ist stark gestört. Die Zellen gehen zwar nach ihrer Ausbeutung durch das Virus nicht zugrunde, aber sie scheinen in ein früheres, unreifes Entwicklungsstadium zurückzufallen.

Auch eine Autopsie der Bauchspeicheldrüsen von vier an Covid-19 verstorbenen Menschen war für die Forscher aufschlussreich. "Obwohl in den schwer angegriffenen Lungen kein Virus mehr nachweisbar war, erwies es sich in der Bauchspeicheldrüse noch als aktiv", so Kleger. "Eine Beobachtung, die auch bei anderen Organen gemacht wurde." Die Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis: Auch wenn die Lunge frei von Viren ist, kann es sein, dass andere Organe noch mit dem Erreger zu kämpfen haben.

Typ-1-Diabetes nach Covid-Infektion?

Angesichts dieser Ergebnisse überraschen die schon während der ersten Corona-Welle beobachteten Symptome nicht. Sie reichen von einer Übersäuerung des Blutes bis zur deutlichen Überzuckerung. Beide bedeuten eine gefährliche Stoffwechselentgleisung, die durch einen Mangel an Insulin ausgelöst wird.

Da die Glukose im Blut wegen des fehlenden Insulins nicht in die Zellen aufgenommen wird, sind diese dazu gezwungen, Fett abzubauen. Dabei entstehen saure Stoffwechselprodukte, die sich im Blut anreichern, was zu einer Übersäuerung führt. Sie tritt vor allem bei Typ-1-Diabetes auf, mitunter aber auch bei Typ-2-Diabetes. Diese Stoffwechselentgleisungen deuten darauf hin, dass aufgrund der Virusinfektion die körpereigene Insulinproduktion zumindest gestört ist. Möglicherweise können die Folgen in manchen Fällen sogar noch gravierender sein.

Gestützt wird dies auch durch Daten einer multizentrischen Studie aus Großbritannien. Darin wurde nachgewiesen, dass im Jahr 2020 die Zahl neu ausgebrochener Typ-1-Diabeteserkrankungen bei Kindern während der Pandemie um 80 Prozent anstieg. Aber nicht nur Kinder sind betroffen.

Ein plötzlich auftretender und vermutlich Sars-CoV-2 bedingter Typ-1-Diabetes ist auch bei jungen Erwachsenen möglich. "Eine Arbeitsgruppe in Kiel hat über den Fall eines jungen Mannes berichtet. Er ist direkt nach Covid-19 an Typ-1-Diabetes erkrankt, ohne irgendwelche Autoantikörper zu entwickeln", so Kleger. Dies passe zu den Ulmer Ergebnissen.

Was bedeutet das für Covid-19-Genesene?

Dass Viren grundsätzlich einen Typ-1-Diabetes auslösen können, ist nicht neu. So kann das Coxsackie-B-Virus, das insbesondere in Regionen mit niedrigeren Hygienestandards auftritt, neben beispielsweise einer Sommergrippe oder Entzündungen von Herz und Gehirn auch Typ-1-Diabetes verursachen.

Dieser kann über Wochen maskiert sein. Mögliche Anzeichen eines Diabetes sind häufige Toilettengänge, ständiger großer Durst, ein Schwächegefühl. "Es ist ratsam, bei diesen Symptomen zügig zum Arzt zu gehen", rät Kleger. "Nach einer Covid-19-Erkrankung sollte man ein paar Monate etwas aufmerksamer sein und seine Blutwerte gegebenenfalls einmal mehr überprüfen lassen."

Übrigens infiziert Sars-CoV-2 nicht nur die Betazellen in der Bauchspeicheldrüse. Es kann auch das Bauchspeicheldrüsengewebe infizieren, das Verdauungsenzyme produziert. Wie sich eine Entzündung dieses Gewebes auswirkt, ist derzeit noch unklar. "Aber leider hat uns das Virus schon mehrfach unangenehm überrascht." (Gerlinde Felix, 13.3.2021)