Markus Waldner plädiert im Weltcup für mehr Qualität und geringere Quantität. Selbst geht er schon lange nicht mehr Ski fahren. Er rutscht nur mehr die Pisten runter.

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Markus Waldner ist als Renndirektor nahe dran am Geschehen. Der Italiener ortet im Breiten- und Hochleistungssport viele komplexe Baustellen. Nicht nur die Verletzungsmisere, auch die Fülle an Formaten und nachlassendes Zuschauerinteresse bereiten ihm Kopfzerbrechen. (15. und letzter Teil der Serie Schnee von morgen.)

STANDARD: Ist der Skisport noch zu retten?

Waldner: Den Skisport muss man nicht retten, er ist noch gut und ein schöner Sport in der Natur. Der Hochleistungssport ist hochgezüchtet, ein hartes Geschäft, ein Mix aus Show und Sport. Gesund ist aber etwas anderes. Skisport als Breitensport ist super. Was will ich retten? Skirennen, den Wettkampf, wer der Schnellste ist, wird es immer geben. Man kann vieles besser und sicherer machen. Wir müssen die Verletzungsproblematik in den Griff bekommen. Wenn es viele Verletzte gibt, verlieren wir auch die Protagonisten. Hochleistungssport wird immer an die Grenze gepusht. Das einzubremsen ist extrem schwierig.

STANDARD: Wie kann man das schwindende Interesse am Skisport wieder steigern?

Waldner: Man muss ihn attraktiv halten, damit die Leute noch zuschauen. Die Gefahr ist, dass man die Pisten zu leicht macht, dass es eine langweilige Partie wird. Fahren alle von oben bis unten in der Hocke, schlafen die Zuschauer bei der Startnummer drei ein. Dann wird unser Sport sterben. Warum schauen alle Kitzbühel? Weil jeder weiß, dass es einen auf die Gosch’n haut. Wenn man Blut sieht, dann schaut man nicht hin, aber eigentlich will man sehen, wie zach es ist. So tickt der Mensch.

Waldner: "Warum schauen alle Kitzbühel? Weil jeder weiß, dass es einen auf die Gosch’n haut."
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STANDARD: Die Abfahrt in Kitzbühel sorgte nach dem schweren Sturz des Schweizers Urs Kryenbühl beim Zielsprung wieder einmal für Diskussionen. Wird sich etwas ändern?

Waldner: Ich komme gerade aus Kitzbühel. Wir sind am Überlegen, wie wir mit der Linienführung das Tempo drosseln können. Es ist eine Gratwanderung. Minimale Details machen einen Unterschied aus, und viel hängt von äußeren Faktoren ab. Heuer war die Piste extrem gut präpariert, man konnte vom Hausberg in der Hocke fahren, dadurch hat sich das Tempo erhöht. Man kann 80 Meter weit springen, aber der Luftstand war wegen der geringen Schneemenge ein Problem. Wir werden das Profil des Zielsprungs leicht anpassen, damit wir mehr Spielraum haben.

STANDARD: Muss man letztlich vor dem Verletzungsteufel kapitulieren? Oder gibt es Hoffnung?

Waldner: Das Thema ist sehr komplex. Mit der Kurssetzung allein lösen wir das Problem nicht. Es geht einher mit der Materialentwicklung und der Pistenpräparierung. Die Geschwindigkeit ist auch ein Faktor. Ein Problem ist auch die Bindung. Es laufen Projekte für eine elektronische Auslösung, aber es ist kompliziert. Ich hoffe, dass es bald eine intelligente Bindung gibt. So ließen sich viele Verletzungen vermeiden.

STANDARD: Könnte man die Reputation des Skisports verbessern, wenn er weniger gefährlich wäre?

Waldner: Es gibt viele gefährliche Sportarten, bei der Rallye Dakar stirbt jedes Jahr ein Mensch. Der Skisport ist nicht so gefährlich, wie viele glauben. Klar ist Gefahr im Spiel, weil es eine Geschwindigkeitssportart ist. Das Material verzeiht keine Fehler. Ein wichtiger Punkt ist, die Gefahr richtig einzuschätzen. Wir haben viele Verletzte, weil vor allem die Jungen kompromisslos am oder über dem Limit fahren. Die Erfahrenen können das Risiko besser einschätzen. Die strategisch-taktische Vorgehensweise ist ein Reifeprozess.

STANDARD: Die leidige Verletzungsproblematik gibt vor allem vielen Eltern Anlass zur Sorge. Was tun?

Waldner: Im Skisport gab es immer Verletzungen. Ich bin vor 40 Jahren Rennen gefahren und habe mir viermal den Hax’n gebrochen. Es hat sich zugespitzt. Hochleistungssport ist ein hartes Geschäft. Aber es ist natürlich nicht gerade eine gute Werbung. Viele Eltern sagen, das ist mir zu riskant. Da gehe ich lieber mit dem Kind Tennis spielen. Das dürfen wir nicht schönreden.

STANDARD: Wie kann man Kinder und Eltern wieder verstärkt für den Skisport interessieren?

Waldner: Der Spaßfaktor ist verloren gegangen. Im Kinderbereich gibt es viele stark involvierte, überfanatische Eltern. Es gibt auch Trainer, die Kinder unter Druck setzen, um kurzfristig bessere Leistungen zu erzielen, aber langfristig versauen sie es ihnen. Die Kinder werden zu viel gedrillt und haben dann keine Lust mehr. 50 Schneetage im Sommer auf dem Gletscher sind der größte Krampf. Man sollte sie vielseitiger, spielerisch, mit freiem Skifahren aufbauen, nicht mit Stangenfahren spezialisieren. Wichtig wären auch andere Sportarten, um auch koordinativ besser zu werden.

STANDARD: Zudem hinterlassen Gletschertrainings auch einen großen ökologischen Fußabdruck. Gibt es da ein Problembewusstsein?

Waldner: Absolut, das Sommertraining sollte man für Jugendliche verbieten. Man hat ja schon die Schnauze voll, bevor die Saison losgeht. Im Sommer sollen sie andere Sportarten betreiben, auch um die Koordination zu verbessern. Weltcupläufer brauchen allerdings eine andere Vorbereitung.

"Wir verlieren viele Zuschauer, weil wir abgesehen von den Klassikern auch langweilige Rennen und ein Überangebot haben."
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STANDARD: Junge Menschen interessieren sich vermehrt für andere Freizeitbeschäftigungen. Ein Problem für die Skifahrt?

Waldner: Unsere Zuschauer sind im Durchschnitt 50 Jahre alt. Eigentlich sollten wir vermehrt die Jugend ansprechen. Aber sie tickt und konsumiert anders. Auf uns kommen schwierige Aufgaben zu: Wie können wir jüngere Zuschauer ansprechen? Wir verlieren viele, weil wir abgesehen von den Klassikern auch langweilige Rennen und ein Überangebot haben. Wir evaluieren viel, aber es ist komplex. Dahinter steht auch ein Business. Quantität ist noch mehr wert als Qualität. Mit weniger Rennen könnte man die Wertigkeit steigern.

STANDARD: Skifahren ist teuer geworden. Ist das der Hauptgrund für rückläufige Zahlen?

Waldner: Der Skisport entwickelt sich immer mehr zum Elitesport. Es ist weniger aufwendig, dem Kind Fußballschuhe zu kaufen. Viele Eltern können es sich nicht mehr leisten, ein Trainings- und Rennprogramm für ein Jahr zu finanzieren. Früher waren es die Bauernbuben, die runtergefahren sind, heute sind es die Kinder der Reichen. Zudem ist unser Sport hart und zäh, aber auch wunderschön und eine Schule für das Leben. Aber wir müssen früh aufstehen. Das ist vielen Jugendlichen zu heftig, sie wählen lieber einen gemütlicheren Weg.

STANDARD: Felix Neureuther prangert an, dass der Kalender überfüllt ist und manche Formate nicht zeitgemäß sind. Ihre Meinung dazu?

Waldner: Ich sage jedes Jahr, dass weniger Rennen besser wären, dass wir uns auf vier Disziplinen konzentrieren sollten. Das Format bei den technischen Disziplinen funktioniert. Bei der Abfahrt sprechen wir wieder über neue Startreihenfolgen. Das aktuelle Format ist nicht das Gelbe vom Ei. Mit Startnummer zehn sind die Besten oft schon unten, ist das Rennen gelaufen. Ideal wäre, wenn die Besten am Schluss kommen, aber durch das aggressive Material verschlechtert sich die Piste sehr schnell. Jetzt gibt es Vorschläge, die Besten in einer kleineren Gruppe nach Startnummer 15 fahren zu lassen.

STANDARD: Der sportliche Wert von Parallelrennen wird immer wieder in Frage gestellt. Die Kombination fristet ein Schattendasein. Auf welche Disziplin könnte man am ehesten verzichten?

Waldner: Die Kombination funktioniert nicht mehr, weil sich alle Athleten spezialisiert haben. Wie es weitergeht, wird im Frühsommer entschieden werden. Bei Olympia 2022 wird es sie noch geben, aber im Weltcup haben wir keinen Platz mehr. Der Fokus liegt auf den vier Kerndisziplinen. Heuer hat die Kombi im Weltcup niemand vermisst, weil sie einfach langweilig ist. Bei den Parallelevents hat man viel probiert, aber gesehen, dass es nicht perfekt funktioniert. Aber es sind gute Events, weil sie auch für Nicht-Insider leicht zu verfolgen sind. Der jungen Generation gefällt dieses Format. Aber man sollte nicht zu viel von Fairness reden. Kein Skirennen ist zu hundert Prozent fair, weil sich die Verhältnisse ändern. Und man müsste Parallelrennen eine andere Wertigkeit geben, weil die Relation nicht stimmt, wenn man für einen Sieg wie für den Abfahrtstriumph in Kitzbühel 100 Punkte bekommt.

STANDARD: Wann waren Sie zuletzt Ski fahren?

Waldner: Oh, mein Gott, Ski fahren gehe ich schon lang nicht mehr. Ich bin von Oktober bis März unterwegs, da rutschen wir nur die Pisten runter. Wenn die Saison vorbei ist, dann gehe ich zwei, drei Skitouren. (Thomas Hirner, 11.3.2021)