In Gruppen der Kommunikationssoftware Telegram sollen hunderte Mitglieder versucht haben, tschetschenischstämmige Mädchen und Frauen zu identifizieren, die ein "unordentliches Leben" führten.

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Wien – "O tempora, o mores!", klagte schon vor rund 2.100 Jahren ein römischer Politiker und Anwalt mehrmals den Verfall der Sitten an. Die fünf Angeklagten, die sich in der Gegenwart wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor Richterin Katharina Adegbite-Lewy verantworten müssen, sollen sich laut Anklage ebenfalls um die Sitten gesorgt haben. Und zwar um jene ihrer jungen tschetschenischen Landsfrauen, die angeblich monatelang in Internetgruppen, deren Administratoren die Angeklagten gewesen sein sollen, überwacht und denunziert wurden.

Nur der von Alexander Philipp vertretene 38-jährige Erstangeklagte N. bekennt sich schuldig. Der unbescholtene zweifache Vater hält sein bereits bei der Polizei abgelegtes Geständnis aufrecht, will sich sonst aber nicht äußern. Bei der Polizei gab er zu, die Telegram-Gruppe "Tallamhoy" gegründet zu haben, was auf Tschetschenisch so viel wie "Allessehende" bedeutet.

"Santa Claus" gegen Bikinibilder

N. selbst war Administrator mit den Nicknames "Santa Claus", "Celentano", "Kanzler" und "King of the night". In der Gruppe mit über hundert Mitgliedern wurden aus öffentlichen Profilen kopierte Bilder von jungen tschetschenischstämmigen Frauen gepostet, die "ein unordentliches Leben" führten. Das tat man rasch: Urlaubsfotos im Bikini, Beziehungen mit männlichen Nichttschetschenen, Zigarettenkonsum waren alles Gründe, an den digitalen Pranger zu kommen.

Anschließend wurde versucht, die Identität der Mädchen und Frauen herauszufinden, um ein "klärendes Gespräch" mit ihnen über ihr Verhalten zu führen. Fruchtete das nicht, wurde gedroht, die Bilder der Familien der Frauen zu zeigen. Manche Mitglieder dieser Telegram-Gruppe gingen aber noch viel weiter: Sie stalkten junge Frauen, bedrohten sie, ein junger Mann wurde wegen seiner Bekanntschaft mit einer Tschetschenin verprügelt.

Die anderen vier Angeklagten, zwischen 19 und 33 Jahre alt, bekennen sich dagegen allesamt nicht schuldig. Zwei von ihnen behaupten, im Auftrag des Präsidenten eines tschetschenischen Kulturvereins in der Gruppe aktiv geworden zu sein – und zwar, um die Bloßstellung der Mädchen zu vermeiden. Sie sollten die Fotos sichern, dem Präsidenten bringen und dieser dann mit den Eltern sprechen.

Zwei sehen sich selbst als Opfer

Der Zweit- und der Viertangeklagte (Verteidiger Florian Kreiner und Robert Lattermann) betonen, im Gegenteil selbst sogar Opfer zu sein: der eine, als ein Foto von ihm beim Shisha-Rauchen veröffentlicht wurde, der andere, da er Tattoos habe und als "kein echter Tschetschene", sondern "Halbafghane" bezeichnet worden sei.

Der Drittangeklagte ist nebenbei noch wegen eines Kinderpornografie-Deliktes angeklagt. Bei der Auswertung seiner Computer und Handys fand die Polizei vier Videos, die Analverkehr mit Unmündigen, also Personen unter 14 Jahren, zeigen. Drittangeklagter I. bekennt sich dazu nicht schuldig. "Ist das Ihr Ernst?", ist Richterin Adegbite-Lewy verwirrt. "Die wurden auf Ihren Handys gefunden, und Sie haben sie sogar weitergeschickt!" Der Verteidiger betont, selbst der ermittelnde Polizist habe bestätigt, dass I. die Videos "nur zum Spaß" weitergeschickt habe.

I. selbst erklärt dazu: "Ich habe die Videos vorher nicht einmal zu Ende geschaut." Die Richterin hält ihm seine Aussage bei der Polizei vor: "Da haben Sie gesagt, Sie haben die Videos nicht als Kinderpornos betrachtet, da keine Vergewaltigung zu sehen sei." – "Ja." – "Ernsthaft? Bleiben Sie bei dieser Aussage?" – "Ja." – "Sie haben selbst drei kleine Kinder! Stellen Sie sich vor, jemand macht solche Aufnahmen mit denen ...", ringt Adegbite-Lewy um Worte. "Da habe ich keine Antwort auf diese Frage", übersetzt die Dolmetscherin.

Unterhaltungssuchender Angeklagter

Der von Wolfgang Haas vertretene Fünftangeklagte soll unter dem Pseudonym "Heinrich Himmler" nach der Festnahme des Erstangeklagten aktiv gewesen sein. Er bestreitet das und behauptet, er habe nur am Rande mit den Telegram-Kanälen zu tun gehabt. "Ich habe das als Unterhaltungsgruppe gesehen", sagt er. "Ich bin jung, ich brauch Unterhaltung, ich verbring viel Zeit im Internet", sagt der zweifach vorbestrafte 20-Jährige, der derzeit wegen Unterstützung der Terrormiliz "Islamischer Staat" in Strafhaft ist. Er habe nie ein moralisierendes Manifest oder Drohungen während der Kommunikation wahrgenommen. Auch er will primär deradikalisierend auf Jugendliche eingewirkt haben.

Während das Verfahren gegen die Angeklagten Nummer zwei bis fünf zur Ladung weiterer Zeugen auf unbestimmte Zeit vertagt wird, fällt die Richterin zu Erstangeklagtem N. ein Urteil. Er wird zu 15 Monaten Haft, fünf davon unbedingt, verurteilt. Die sechs Monate, die er in Untersuchungshaft verbracht hat, werden ihm angerechnet, der zweifache Vater kann den Gerichtssaal daher verlassen. (Michael Möseneder, 10.3.2021)