Zerstörte Lebensräume wie hier in Mocha sind nicht das einzige Problem im Jemen. Tausende Kinder sind vom Hungertod bedroht.

Foto: Johannes Dieterich

Der dreijährige Abdullah wiegt nur sechs Kilogramm.

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Unter einem schiefen Dach neben der Hauptstraße von Khowkha läuft ein Kamel ununterbrochen im Kreis. Es treibt eine Mühle an, die Sesamkörner zu Öl zerquetscht: Seine Augen sind mit Blenden aus Bast zugehängt, damit das Tier nicht von seiner ihm aufgezwungenen Aufgabe abgelenkt wird. Es fällt schwer, sich die erbärmliche Szene anzusehen – noch schwerer, sie nicht als Allegorie auf die jemenitische Heimat des Kamels zu verstehen.

Von Khowkha aus führt die Straße an der Küste des Roten Meeres entlang und stellt sich als verblüffend gut heraus – von den selteneren großen Löchern im Asphalt mal abgesehen, die von vergangenen Gefechten stammen. Murat Ali muss seinen Wagen ohnehin alle paar Kilometer zum Stillstand bringen – an einer der unzähligen Straßensperren, die von bewaffneten Männern bewacht werden.

Mal sind es die verwegenen Kämpfer der Tihamah-Clans, mal die Glaubenskrieger unter dem Banner Al-Amaliqas, mal die uniformierten Soldaten der Nationalen Widerstandsarmee. Im Jemen kommt es regelmäßig vor, dass Verbündete zu Feinden werden: Die jüngsten Ruinen in Aden, der Hauptstadt des einstigen Südjemens, zeugen davon.

Beispiel des gescheiterten Staates

Hinter der zwanzigsten Straßensperre biegt Murat nach rechts in die Wüste ab, wo das schwarze Asphaltband einer verwehten, -holprigen Piste weicht. Auf den nahegelegenen Dünen tauchen die ersten Gefechtsstände auf: mit Sandsäcken oder sandgefüllten Plastikflaschen gesicherte Ausgucke, die entlang der nächsten dreißig Kilometer den Frontverlauf säumen werden.

Die hiesige Seite der Wüste wird von der saudisch finanzierten Koalition aus Clan-Milizen, religiös motivierten Bürgerwehren und den Truppen der international anerkannten Regierung beherrscht. Jenseits der Dünen haben die zaiditischen Huthis das Sagen.

Die Zaiditen sind eine aus dem Norden des Landes stammende Volksgruppe mit eigener Rechtslehre, die vom Iran unterstützt wird. Die Rivalität zwischen den saudischen und iranischen Erzfeinden ist nur eine der Ursachen der zahllosen seit 20 Jahren in unterschiedlichen Konstellationen geführten Kriege: Andere sind die Interessenunterschiede der Nord- und Südjemeniten oder Spannungen zwischen den Clans.

Nach dem Sturz des autokratischen Herrschers Ali Abdullah Saleh vor zehn Jahren beschleunigte sich die Auflösung der vom Kolonialismus, dem Kalten Krieg und dem US-Feldzug gegen den "islamischen Terror" zerrütteten Nation: Heute gilt "die Wiege Arabiens" als Paradebeispiel eines "gescheiterten Staats". Ohne funktionierende Institutionen, ohne gemeinsame Vision, mit einem Präsidenten, der im Nachbarland lebt.

Dutzende Kriegsverletzte pro Woche

An der Front vor Tuhayta geht es derzeit eher entspannt zu, die Kämpfer sind mit Wasserholen, Wäschewaschen oder der Pflege ihrer Pick-ups mit den aufmontierten Maschinengewehren beschäftigt. Nur ab und zu kommt es zu Zwischenfällen, war tags zuvor im Zeltspital von Ärzte ohne Grenzen in der Küstenstadt Mocha zu erfahren: Dort werden Kriegsverletzte, derzeit durchschnittlich rund 50 pro Woche, wieder zusammengeflickt – egal ob es sich um Zivilisten oder Milizionäre handelt.

Die eigentlichen Kämpfe toben dieser Tage um die 500 Kilometer weiter nordöstlich gelegene Erdölstadt Marib: Dort feuern Huthi-Kämpfer iranische Raketen in die von Flüchtlingen übervölkerte Stadt; die saudische Luftwaffe reagiert mit Gegenschlägen. Tariq Saleh, der Kommandant der Nationalen Widerstandsarmee, will hier im Südwesten einen Entlastungsangriff starten, um die Huthis zum Abzug von Truppen von der Marib-Front zu zwingen. Doch die Saudis haben ihm zumindest bislang kein grünes Licht erteilt.

Flucht ins Stadtzentrum

Am Horizont tauchen endlich die Fernmeldemasten von Tuhayta auf: einer rund 25.000 Einwohner zählenden Stadt, die auf drei Seiten von der Front umgeben ist. Die Außenbezirke der Provinzstadt sind menschenleer, weil bis hier die Präzisionsgewehre der Scharfschützen reichen. Dafür geht es im Stadtzentrum umso geschäftiger zu: Dorthin sind auch die Bewohner der umliegenden Siedlungen geflohen. Das an einem Wadi, einem ausgetrockneten Flusslauf, gelegene Tuhayta ist von bewässerten Feldern und Palmenplantagen umgeben, die inzwischen allerdings unzugänglich sind. "Vermint", sagt Malik Abdullah Derwisch, der Apotheker der Stadt.

Der 55-Jährige musste kürzlich sein Geschäft schließen. Es gab keine Medikamente mehr – zumindest keine, die sich die Bewohner leisten könnten.

Die Preise sind in die Höhe geschossen: Ein Kilo Kartoffeln kostet heute das Fünffache vom Vorjahr. Leitungswasser gibt es nur noch an einem Tag der Woche, weil für die sechs Dieselpumpen kein Sprit mehr zur Verfügung steht und die einzige Solarpumpe nur jeweils einen Teil der Stadt versorgen kann. Ein Lehrer klagt, das Obergeschoß seines Gymnasiums sei zerstört worden, die Lehrer erhielten seit Monaten kein Gehalt mehr. Die Jugendlichen kämen zwar noch täglich, allerdings nur für eine halbe Stunde und vor allem, um gezählt zu werden. "Manche meinen, dass das eines unserer kleinsten Probleme sei", sagt der Lehrer: "Doch unser Land wird unter den Folgen noch jahrzehntelang leiden."

Akute Unternährung

Einer Schätzung der drei UN-Organisationen FAO, WFP und Unicef sollen in Tuhayta 27 Prozent der unter fünfjährigen Kinder "akut unterernährt" sein – mehr als in allen anderen Teilen des Landes. Als sich herumspricht, dass Vertreter einer ausländischen Hilfsorganisation in der Stadt sind, kommen Mütter mit ihren spindeldürren Kindern in die Klinik geeilt – darunter der acht Monate alte Abdulrahman, dessen aufgerissene Augen schon von Todesangst gezeichnet sind.

Der Junge nehme schon seit Tagen keine Nahrung mehr zu sich, berichtet seine Mutter, die mit der Familie in unmittelbarer Nähe zur Front lebt. Werde er nicht unverzüglich in eine Klinik mit der richtigen Ausrüstung gebracht, werde er in Kürze sterben, sagt die portugiesische MSF-Ärztin Mariana Perez Duque. Doch das nächste entsprechende Spital ist mehr als 70 Kilometer weit entfernt – unerreichbar für Abdulrahmans verarmte Mutter.

Sie habe in den vergangenen Wochen schon 35 Kinder sterben gesehen, sagt Krankenpflegerin Fatima Fahmy. Darunter auch den Bruder Abdullahs. Auf dem Arm seines Onkels wirkt der dreijährige Abdullah federleicht und hilflos wie ein Säugling: Er wiegt nicht einmal sechs Kilogramm. Auch Abdullah nimmt seit Tagen nichts mehr zu sich: Ausgehungerte Kinder müssen in der Endphase mittels Magensonde oder Infusion ernährt werden, weiß Epidemiologin Duque. "Sie sind selbst zum Essen zu schwach."

Keine Hilfstransporte

Die UN-Schätzung, wonach in der Region um Tuhayta fast ein Drittel aller Kinder akut unterernährt sind, ist bereits vier Monate alt – und trotzdem hat die Stadt noch kein einziger Hilfstransport erreicht. UN-Mitarbeiter dürften Tuhayta aus Sicherheitsgründen erst gar nicht ansteuern, erklärt Raphael Veicht, Chef der belgischen MSF-Mission: Neben dem Roten Kreuz sind Ärzte ohne Grenzen die einzige ausländische Organisation, die sich in die Frontstadt wagt.

In der 150 Kilometer entfernten Stadt Mocha befinde sich ein Lagerhaus voller UN-Hilfsgüter, sagt Veicht: Ein "Skandal", dass diese nicht längst verteilt worden seien. Seit Wochen warnt die UN vor der "schlimmsten Hungersnot der Welt seit Jahrzehnten" im Jemen: Getan wird nichts.

Explosionen der Mörsergranaten

Von den Minaretten der Moscheen sind die Rufe der Muezzine zum Mittagsgebet zu hören – höchste Zeit, die Stadt zu verlassen. Nach dem Gebet pflegen sich zumindest die männlichen Jemeniten zum Kauen von Khat zurückziehen: Ein mildes Rauschmittel, das den Hunger zügelt und den Tatendrang anregt – aus der Ferne sind schon die ersten Explosionen von Mörsergranaten zu hören.

Auf dem Rückweg scheinen die Milizionäre an den Straßenblockaden alle geschwollene Wangen zu haben: Zur besseren Aufnahme des Wirkstoffs in den Blutkreislauf wird der Pflanzenbrei noch stundenlang in der Backe gelagert. Je nach Anbaugebiet sagt man dem Khat entspannende oder aufputschende Wirkung nach. Er macht das Leben erträglicher. Zurück in Khowkha liegt das Kamel erschöpft am Boden – während für die Jemeniten die gefährlichste Zeit des Tages mit der Dunkelheit erst noch beginnt. (Johannes Dieterich aus Khowkha, Mocha und Tuhayta, 11.3.2021)