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Menschen rücken in Krisen näher zusammen. Deshalb kommen aber nicht unbedingt mehr Babys auf die Welt.

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STANDARD: Vor ziemlich genau einem Jahr ging Österreich in den ersten Lockdown. Damals wurde über einen bevorstehenden Babyboom spekuliert. Was weiß man jetzt darüber?

Mazal: Erste Daten weisen darauf hin, dass der Babyboom ausbleibt. Die Geburten gehen tendenziell sogar zurück. Allerdings ist der Zeitraum, den wir betrachten, natürlich noch sehr kurz. Der erste Lockdown hat am 16. März 2020 begonnen, ein Lockdownbaby könnte also frühestens Mitte Dezember auf die Welt gekommen sein.

STANDARD: Eine Volksweisheit besagt, dass längere Stromausfälle zu einem Hoch in der Geburtenstatistik führen. Für Lockdowns gilt das also nicht?

Mazal: Bei einem Stromausfall 1965 in den USA hat man diesen Effekt beobachtet. Da zeigte sich eine kleine Zacke. Solche Dinge sollte man aber nicht überbewerten.

STANDARD: Aber gerade jetzt merken doch viele, wie wichtig Familie ist.

Mazal: Vielleicht ist es ja wie 2011 in Japan. Da hat sich der Tsunami auf das Bindungsverhalten ausgewirkt – es gab einen Hochzeitsboom. In schweren Situationen haben die Menschen ein gesteigertes Bedürfnis nach Nähe. Dass sich junge Leute in Österreich nach einer stabilen Beziehung und einer eigenen Familie sehnen, nehme ich auch wahr.

Wolfang Mazal leitet das Österreichische Institut für Familienforschung. Er befürchtet, dass viele ihren Kinderwunsch jetzt aufschieben.
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STANDARD: Auf der anderen Seite machen sie sich Sorgen um ihren Job.

Mazal: Und bei vielen haben diese Sorgen möglicherweise zu einem Hinauszögern der Entscheidung geführt. Am Anfang des Lockdowns war der Effekt vielleicht noch nicht so groß, aber mit seinem Andauern wurde die wirtschaftliche Unsicherheit größer. Aus früheren Studien wissen wir, dass wirtschaftliche Unsicherheit die Geburtenrate drückt.

STANDARD: Wie war das in der Finanzkrise?

Mazal: In der Finanzkrise hat die Unsicherheit nicht so lange angedauert. Deshalb gab es nicht so große Auswirkungen auf die Geburten. Der Unterschied zur jetzigen Pandemie: Es war damals relativ schnell klar, wie die Staaten reagieren müssen, damit eine wirtschaftliche Erholung möglich ist. Der Spruch "Whatever it takes" von Mario Draghi, damals noch Präsident der Europäischen Zentralbank, hat viel Unsicherheit genommen. Dass die Staatsschulden gewachsen sind, wirkt sich auf die Reproduktion nicht aus.

STANDARD: Bei Corona ist das anders?

Mazal: Weil jede und jeder die Auswirkungen im täglichen Leben merkt. Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sind Massenphänomene, und das geht an niemandem spurlos vorbei. Wenn wir uns das Alter ansehen, in dem die Menschen heutzutage Kinder bekommen, dann ist das Ende 20, Anfang 30. Da sind sie meistens nicht frei von Arbeitsplatzsorgen. Im Tourismus, in der Gastronomie und im Handel arbeiten viele Frauen im reproduktionsfähigen Alter. Das sind genau die Bereiche, die von der Krise besonders stark betroffen sind.

Man muss aber auch sagen: Hätten unsere Großeltern oder Urgroßeltern in den 1920er-Jahren nur an wirtschaftliche Sicherheit gedacht, wären wir alle nicht hier. Durch die Verhütungsmethoden ist das heute etwas anderes. Da schlagen sich Ängste in ganz konkreten Handlungen nieder.

STANDARD: Sie meinen, dass Kinder heute eine bewusstere Entscheidung sind?

Mazal: Sie sind ein geplantes Projekt! Es gibt zwar die Zufallsbabys, aber viele Menschen entscheiden sich bewusst fürs Elternsein. Und derzeit eben dafür, diese Entscheidung zu verschieben.

STANDARD: Welche Rolle spielen gesundheitliche Bedenken?

Mazal: Ich würde sie nicht als ausschlaggebend ansehen, aber das ist eine reine Mutmaßung von mir. Viel wichtiger sind finanzielle Bedenken, würde ich sagen. Dieser Zusammenhang ist nämlich durch Studien belegt. In Ländern, wo Armut herrscht, verhält es sich übrigens genau umgekehrt: Dort bekommen die Menschen mehr Kinder, weil Kinder eine Quelle des Wohlstandes sind. Bei uns werden sie als Gefährdung des Wohlstands gesehen.

STANDARD: Denken Sie, dass Paare das Kinderkriegen nachholen, sobald die Situation eine bessere ist?

Mazal: Das halte ich für sehr wahrscheinlich. Aber nur, wenn sich das gesellschaftliche Mindset ändert, optimistischer wird. Ich glaube, dass viele der Ängste übertrieben sind. Die Erfahrungen sind derzeit zwar schlecht, aber wir haben in Österreich ja auch ein gutes soziales Netz. Das sieht man jetzt an Kurzarbeits- und Arbeitslosenunterstützungen. Es ist Aufgabe der Medien, der Politiker, aber auch jedes Einzelnen, eine positivere Stimmung zu schaffen.

STANDARD: Was würden Sie Paaren mit Kinderwunsch raten: "Legt los!"?

Mazal: Ja, warum denn auch nicht? In unserer Gesellschaft herrscht Solidarität, und die Medizin macht große Fortschritte. Trotz allem geht es uns im Grunde genommen gut. (Interview: Lisa Breit, 13.3.2021)