Der Franzose Laurent Binet dreht gern und vergnüglich historische Fakten um.

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Bezüglich alternativer Fakten muss man heutzutage vorsichtig sein. Deshalb sollte man speziell mit der oft nicht mehr erkannten fiktionalen Erzähltechnik umgehen wie mit rohen Eiern. Man kann sie jemandem aus Protest ins Gesicht klatschen. Friss oder stirb. Man kann aber auch versuchen, den Leuten zu erklären, dass es sich bei sogenannten rohen Eiern schlicht um rohe Eier handelt.

Schau einmal, damit könnte man zum Beispiel eine geile Torte backen oder Huevos Rancheros brutzeln. Dann wären die Eier auch zu einem glücklichen Ende hin "verarbeitet" worden. Apropos Huevos Rancheros, heute geht es unter anderem nach Mittel- und Südamerika.

Bevor Laurent Binets Roman Eroberung in Social Media also als sensationelles Enthüllungsbuch bezüglich der jahrhundertelangen Unterwanderung Europas durch die Fremden gelesen wird, die nach ihrem Urlaub nicht wieder nach Hause segeln oder auf Flugechsen reiten, empfiehlt sich ein Aufkleber: "Achtung, Satire". Der Autor hat sich das alles nur ausgedacht!

"Sohn der Sonne"

Während Europa im 16. Jahrhundert unter anderem gegen sich selbst oder die Türken Krieg führt – die Rede ist von dringlichen Glaubensfragen wie der Inquisition, Judenhass, Frauenhass, Islamophobie, Bigotterie, den bösen Lutherischen, der schlichten Geld- und Machtgier –, tauchen vor der portugiesischen Küste Schiffe auf. Die erinnern von ihrem Äußeren her ein wenig daran, dass Christoph Kolumbus mit seiner Expedition nach Indien eigentlich schon einige Jahre lang als "missing in action" gilt.

Inkakönig Atahualpa, der "Sohn der Sonne", ist mit 200 Mann Besatzung und jeder Menge sich bald als äußerst nützlich erweisendem Gold auf der Flucht vor einer gröberen Familienfehde in Europa gelandet. Jahrhunderte zuvor waren die Wikinger im Rahmen ihres Amerika-Trips vom Norden her bis ins Inkareich vorgedrungen. Sie hatten den Inka Pferde, Eisen und Krankheiten wie die Pocken gebracht. Dementsprechend durchimmunisiert und kriegerisch sowie politisch-taktisch gut aufgestellt beginnen die Inka nun ihren Gegenbesuch.

Der "Angenagelte Gott"

Der Franzose Binet zieht dabei literarisch alle Register. Er stellt Wikinger-Sagas oder historische Dokumente wie das Bordbuch von Kolumbus auf den Kopf oder schildert in einem imaginären Briefwechsel von Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam das politische Zeitgeschehen. Auch Montaigne oder Miguel de Cervantes tauchen auf. Dazu gesellen sich kapitelweise pathetische Heldengesänge und imaginäre Chroniken der Eroberer.

Religiöse Streitigkeiten in Europa bezüglich des "Angenagelten Gottes" werden durch den bald angenommenen, etwas weniger strengen Sonnenkult dieser "nackten Wilden" relativiert. Speziell Heinrich VIII. kann sich für die dadurch erlaubte Vielweiberei erwärmen. Schließlich dringt Bankier Anton Fugger darauf, dass die Inka Martin Luther beseitigen. Der mache das Geschäft mit dem Ablasshandel kaputt. Die Kirche könne deshalb ihre Schulden bei Fugger nicht zurückzahlen. Am Ende werden Luthers 95 Thesen durch die "95 Sonnenthesen" ersetzt. Die Heilige Dreifaltigkeit steht nun für "Sonne, Mond und Donner".

Laurent Binet mag zwar in diesem Gedankenspiel namens Eroberung auf eine tiefergehende psychologische Personenführung weitgehend verzichten. Als Mittelding zwischen amüsanter Strandlektüre und ad absurdum geführter europäischer Ideengeschichte taugt dieser Roman aber allemal. Okay, den Strand werden wir wohl auch heuer wieder durch Freibad ersetzen müssen. (Christian Schachinger, 12.3.2021)