Guinchard-Kunstler litt an einer seltenen Erbkrankheit.

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Der Tod von "Paulette", wie sie Politikerkollegen gerne nannten, bewegt Frankreich. Die 71-jährig verstorbene Paulette Guinchard-Kunstler war in ihrem Land sehr populär. Sie hatte es als eine von wenigen Bäuerinnen – auch diesen Ausdruck mochte sie – bis in die Regierung in Paris geschafft. "Ich bin die einzige in der Regierung, die Kühe melken kann", scherzte die Sozialdemokratin, die unter Staatschef Jacques Chirac und Premierminister Lionel Jospin Staatssekretärin für die Senioren gewesen war.

In dieser Funktion hatte Guinchard-Kunstler 2001 die in Frankreich viel geschätzte "Persönliche Autonomie-Hilfe" initiiert. Dies ermöglicht es älteren Menschen, zu Hause zu leben, statt sich in stationäre Pflege begeben zu müssen.

Zum Schluss musste sie diese Hilfe selbst in Anspruch nehmen. Sie litt unter einer seltenen Erbkrankheit, die über das Kleinhirn die körperlichen – nicht aber die mentalen – Kapazitäten nach und nach hinwegrafft. Die Großmutter väterlicherseits hatte schon darunter gelitten, und ihren Vater pflegte die nachmalige Abgeordnete selbst.

Bis die zeitweilige Vizepräsidentin der Nationalversammlung an sich die gleichen Symptome feststellte. 2007 musste sie deshalb die Politik an den Nagel hängen. Nachdem ihr Körper immer mehr verfallen war, fuhr sie im Februar 2021 in die Schweiz, um dort am 4. März mit Sterbebegleitung freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Guinchards Gatte teilte mit, die unheilbar Kranke habe ihren letzten Schritt "mutig, luzid und entschlossen" vollzogen. "Die zwei letzten Wochen waren schrecklich – aber nicht für Paulette."

Letzter politischer Akt

Die Verstorbene ließ die Umstände ihres Todes bewusst publik machen, sah sie doch darin einen letzten politischen Akt. Sie wollte für die Sterbehilfe werben und den Zwang zum "Sterbetourismus" anprangern. In Frankreich ist jede Form von Suizidassistenz untersagt.

Guinchards letzter Wunsch wurde erhört: In den beiden Kammern des französischen Parlamentes sind diese Woche gleich fünf Gesetzesvorstöße eingereicht worden. Sie alle zielen darauf ab, eine "Aktivhilfe beim Sterben" zu ermöglichen, wie die Sozialistin Marie-Pierre De la Gontrie ihren Vorstoß nennt.

Der Senat hat die Debatte am Donnerstag aufgenommen, die Nationalversammlung wird Anfang April folgen. Mitten in der Covid-19-Krise rechnen die diversen Initianten mit einem verschärften Bewusstsein für die Sterbefrage.

In Frankreich ermöglicht das sogenannte Claeys-Leonetti-Gesetz von 2016 einzig, den "therapeutischen Übereifer" bei hoffnungslosen Fällen in Grenzen zu halten.

Macron unter Druck

Präsident Emmanuel Macron will das heikle Thema der Sterbehilfe vorläufig nicht aufgreifen, zumal er gesundheitspolitisch schon genug mit der aktuellen Pandemie am Hals hat. Im letzten Präsidentschaftswahlkampf von 2017 hatte er zwar erklärt, man solle in Frankreich "selbst über sein Lebensende befinden können". Seither fand er aber nie Zeit, die Liberalisierung der Sterbehilfe in die Hand zu nehmen.

Der öffentliche Druck wächst aber. Laut Meinungsumfragen ist eine überwiegende Bevölkerungsmehrheit von bis zu 90 Prozent für die Zulassung der Sterbehilfe. Beachtung fand in Paris auch, dass Portugal die Suizidbegleitung wie die Schweiz und die Beneluxstaaten im Jänner zugelassen hat. Die parlamentarischen Vorstöße in Paris könnten Macron nun zum Einlenken zwingen. (Stefan Brändle aus Paris, 12.3.2021)