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Tom Holland als drogensüchtiger Veteran, der mit einfachen Mitteln Banken überfällt.

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"One for them, one for me" – einen für das Geschäft, einen für uns. Ihre Arbeitsmaxime haben die Brüder Anthony und Joe Russo eigenem Bekunden nach von ihrem "Entdecker" Steven Soderbergh übernommen, der sie nach ihrem ersten, noch mit der privaten Kreditkarte finanzierten Film (Pieces) unter seine Fittiche nahm. Der Filmemacher, der zwischen smarter Ocean’s Eleven-Unterhaltung und eigenwilligeren Projekten wechselt, wusste schon immer, wie man sich wendig durch Hollywood bewegt.

Apple TV

Nach dem Marvel-Hit Avengers: Endgame, dem erfolgreichsten Film aller Zeiten, können sich die Russo-Brüder das jetzt auch locker leisten. Was macht man in der nicht unbequemen Position, alles realisieren zu können? Einen Film mit dem trügerisch netten Titel Cherry, den das Duo als Porträt einer gebeutelten Generation versteht. Die autobiografisch unterfütterte Vorlage stammt von Nico Walker, der in seinem Roman seine Talfahrt vom Teenager zum Opiat-süchtigen Bankräuber beschreibt. Pessimismus aus dem depravierten Mittleren Westen der USA, keine sehr erbauliche Geschichte.

Stadt der Glücklosen

Persönlich – "one for us" – ist der Film für die Russos schon aufgrund ihrer eigenen Herkunft aus Cleveland, Ohio. Sie würden gar aus demselben Eck wie die Menschen des Films stammen, erzählt Angela Russo-Otstot, die Schwester und Co-Drehbuchautorin. Cleveland habe einen Ruf als Ort der Glücklosen, als dunkle Sackgasse. Der Antiheld Cherry löst dieses Bild beispielhaft ein und will doch ganz anders sein. Tom Holland, der aktuelle Spiderman, spielt ihn als Arglosen ohne Glück. Eine Entscheidung aus enttäuschter Liebe besiegelt sein Geschick: Er tritt in die Armee ein, und kehrt traumatisiert aus dem Irak-Krieg zurück – und behilft sich mit Drogen.

Riskant sei dieses Projekt nicht gewesen, sagen die Russos über ihren Richtungswechsel. Der Film ist für Apple TV+ so etwas wie ein Prestigeprodukt, mit dem der Streamingdienst an jüngere Netflix-Deals mit David Fincher (Mank) oder Aaron Sorkin (The Trial of the Chicago 7) anzuschließen versucht. Prominenten Filmemachern wird ein luxuriöses Experimentierfeld geboten, das die Brüder dann auch mit stilistischem Überschwang beackern. Jedes Kapitel des Films befasst sich mit einer Station aus Cherrys Höllenfahrt und variiert dabei auch filmische Verfahrensweisen.

Regie-Brüder: Anthony und Joe Russo.
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Es gibt Verstöße gegen die imaginären Grenzen des Raums, ein beständiges Spiel mit Farbnuancen, raffinierte Kameratrackings, Dronenbilder oder Schnittstakkatos: "Wir haben einen visuellen Stil gesucht, der auch die Revolte dieser Generation Z verkörpern sollte", sagt Joe Russo. "Die Post-9/11-Generation verarbeitet Bilder auf ganz andere Weise als jede davor. Sie konsumieren den ganzen Tag Bilder und visuelle Informationen auf ihren Smartphones. Wir haben dazu eine Art Analogie gesucht, um diese Energie auf den Film umzulenken." Um die "odysseische" Qualität von Cherrys Reise sicherzustellen, ergänzt Anthony Russo, wollten sie den Film möglichst subjektiv gestalten: "In dem Sinn, wie Cherry es selbst durchlebt. Im Verhältnis zu seiner Wahrnehmung."

Die Optik folgt bei den Brüdern dennoch auch einem klaren Kalkül. Sie ziehen Cherry mit ihrer Inszenierung eine "Stylishness" über, ein schickes Gewand, das das Trostlose der Erzählung ähnlich übersteuerter Drogen-Filme wie Leaving Las Vegas leichter verdaubar macht. Auch in der Wahl von Holland, der sich mit Körpereinsatz auf die Qualen eines Junkies einlässt, vergessen sie nicht auf Anreize für ihr Publikum: "Der Roman ist ja noch viel dunkler. Sobald uns Tom einfiel, ergab der Film Sinn. Er bleibt sympathisch und charismatisch."

Schiwagoeske Liebe

Und nicht nur das. Der Film will die Zuschauer mit einer über allen Dingen stehenden Liebe betören. Die Russos haben dafür einen überraschenden Vergleich parat: Sie nennen den Film "schiwagoesk", nach David Leans berühmtem, epischem Liebesmelodram von 1965. Auch in Cherry bildet eine Frau, Emily (Chiara Bravo), den romantischen Angelpunkt – eine Liebe, die nicht sein darf und in der man gemeinsam durch die schlimmsten Entzugszustände kriechen muss und doch nicht von einander ablässt. Das klingt kitschig, und ganz so wird es dann auch manchmal eingelöst.

Als Umstieg der Russo-Brüder in das große Melodram ist Cherry deshalb nur teilweise geglückt. Aber der Film zeigt trefflich die Flexibilität auf, die gerade zwischen unterschiedlichen Produktionsmodellen möglich wird. Für die Streamer gibt es erwartbar Lob: Diese hätten zu mehr Risikobereitschaft und Diversität bei Stoffen geführt. "Man sollte der digitalen Distribution dankbar sein, weil sie mehr Türen geöffnet hat als das Kino zuletzt", findet Joe Russo.

Mehrgleisig wollen die Brüder auch weiterhin fahren. Aktuelle Pandemie-bedingte Einbrüche beim Film bekümmern sie dabei nur wenig: "In China werden in den Kinos schon jetzt wieder Rekorde gebrochen." Die Menschen würden ins Kino zurückkommen – "es wird wie in den Roaring Twenties sein". (Dominik Kamalzadeh, 12.3.2021)