Seit Wochen wird in Bosnien-Herzegowina hitzig über die Änderung des Wahlrechts diskutiert. Konkret geht es um die Umsetzung eines Urteils des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2016. Der Grazer Verfassungsrechtler Joseph Marko, der an der Universität Graz auch das Kompetenzzentrum Südosteuropa gegründet hat und ein Experte für die Verfassung von Bosnien-Herzegowina ist, verweist aber nun darauf, dass das Urteil längst umgesetzt wurde und sich daher gar keine Notwendigkeit ergibt, eine Wahlrechtsreform in dieser Causa durchzuführen, wie dies die bosnisch-kroatische Partei HDZ vehement fordert.

Bosnien hat ein Problem weniger, weil es bereits erledigt ist: die Wahlrechtsreform.
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Tatsächlich heißt es in einer Entscheidung des bosnischen Verfassungsgerichtshofs vom 6. Juli 2017, dass das Verfassungsgericht die entsprechenden Bestimmungen im Wahlgesetz für aufgehoben erklärt, weil das Parlament von Bosnien-Herzegowina die für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen des Wahlgesetzes nicht innerhalb der vorgesehenen Frist von sechs Monaten mit der Verfassung harmonisiert hat. Die Sache ist also längst erledigt.

Ljubić-Urteil

Interessant ist, dass in Bosnien-Herzegowina dieser Umstand offenbar noch von niemandem zur Kenntnis genommen wurde. So haben erst kürzlich die Parteichefs der größten ethnonational orientierten bosniakischen Partei, der SDA, Bakir Izetbegović, und der größten ethnonational orientierten kroatischen Partei, der HDZ, Dragan Čović, – auch mit Unterstützung der EU und der USA – begonnen, über eine Reform in der Angelegenheit zu verhandeln.

"Weil die entsprechende Bestimmung in einem Nachfolgerkenntnis außer Kraft gesetzt wurde, muss man aber gar nichts tun. Das Ljubić-Urteil ist insoweit bereits umgesetzt", erklärt Marko dem STANDARD, weil ja die entsprechenden Bestimmungen in der Verfassung der Föderation von Bosnien und Herzegowina nach der Interpretation des Verfassungsgerichts nunmehr in verfassungskonformer Weise angewendet werden müssen.

Bei dem Ljubić-Urteil ging es um eine Beschwerde eines bosnischen Kroaten namens Božo Ljubić, der argumentierte, dass die Tatsache, dass aus allen zehn Kantonen des Landesteils Föderation jeweils mindestens ein Kroate in das Haus der Völker des Parlaments der Föderation entsandt werden muss, verfassungswidrig sei, weil dadurch angeblich die Gleichheit der drei konstitutiven Völker (Bosniaken, Serben, Kroaten) verletzt werden würde.

Debatte um "echte" Kroaten

Dabei geht es konkret darum, dass Bewohner, die sich als Kroaten bezeichnen, vor allem in vier der zehn Kantone leben. Die kroatische HDZ möchte, dass die Vertreter der Kroaten vorwiegend aus diesen vier Kantonen kommen sollen, weil sie dort selbst viel Macht hat. Sie will durch eine neue Entsendeformel sicherstellen, dass sie selbst die Regierung in der Föderation maßgeblich mitbestimmen kann. Denn sie hat die Vertreter der Kroaten aus anderen Kantonen nicht unbedingt unter ihrer Kontrolle. In dem Wahlgesetz war vorgesehen, dass aus jedem Kanton mindestens ein Kroate, ein Bosniake und ein Serbe in das Haus der Völker entsandt werden müssen. Insgesamt sind nach den Bestimmungen des Wahlgesetzes jeweils 17 Kroaten, Serben und Bosniaken sowie sieben sogenannte "Andere" in das Haus der Völker der Föderation zu entsenden. Die HDZ will mindestens zwölf von den zu entsendenden Kroaten dauerhaft kontrollieren.

Seit Jahren schon argumentieren die HDZ-Vertreter, dass nur Vertreter der HDZ "echte" Kroaten seien. Juristisch ist das allerdings irrelevant, denn in Bosnien-Herzegowina wird die sogenannte ethnische Identität "subjektiv" bestimmt. Es kann sich also jeder, der will, selbst und nur selbst zum Kroaten, Serben oder Bosniaken erklären. Von außen kann das niemand bestimmen.

Subjektive Bestimmung von Identität

Die HDZ argumentiert auch seit Jahren, dass Željko Komšić, der im dreiköpfigen Staatspräsidium die Kroaten repräsentiert, kein legitimer Vertreter sei, obwohl Komšić sich selbst als Kroate identifiziert. Allerdings ist er kein Mitglied der HDZ. Mit dem Beharren auf das Ljubić-Urteil will die HDZ offenbar vor allem eine politische Strategie ausbauen. "Demnach soll nur die ethnische Mehrheitspartei bestimmen dürfen, wer ein echter Kroate ist, der Kroaten wählen darf", erklärt Marko dieses Ansinnen. "Damit will man juristisch den Boden dafür aufbereiten, dass die subjektive Bestimmung, wer sich welcher ethnischen Gruppe zugehörig fühlt, ausgehebelt wird und dies Behörden von außen bestimmen sollen."

Ziel der HDZ ist es aber letzlich, einen dritten Landesteil zu schaffen – das war auch schon das Kriegsziel –, indem die Wahlbezirke, in denen viele Bürger die HDZ wählen, gesondert behandelt und zusammengefasst werden. "Das bosnische Verfassungsgericht ist mit dem Ljubić-Urteil auf die Argumentation der 'korrekten politischen Repräsentation' hineingefallen", erklärt Marko dem STANDARD. Es habe allerdings eine abweichende juristische Meinung gegeben, die der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entspricht.

Urteil aus Belgien

Dabei handelt es sich um eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus dem Jahr 1987 (Mathieu-Mohin und Clerfayt gegen Belgien). In diesem Fall hatten sich zwei Belgier beschwert, weil in einem bestimmten Wahlbezirk die französischsprachigen Wähler nicht auch durch französischsprachige Abgeordnete im für bestimmte Gesetzgebungsbelange ausschließlich für diesen Bezirk zuständigen Rat der flämischen Gemeinschaft repräsentiert werden konnten. Der EGMR wies die Beschwerde allerdings zurück und argumentierte, dass dies nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße.

"Es gibt kein Recht auf eine Repräsentation, die ausschließlich auf Sprache oder Religion beruht", erklärt Marko. "Genau so eine wird aber in dem Ljubić-Fall gefordert, wenn man sich die Begründung des Beschwerdeführers genauer ansieht." Übrigens gäbe es in ganz Europa keine juristisch durchsetzbare Repräsentationsform aufgrund von Sprache oder Religion im aktiven Wahlrecht, erklärt der Experte. Eine individuelles Recht auf "einen Kandidaten eigener Wahl" war hingegen im amerikanischen Wahlgesetz von 1965 vorgesehen. Um dieses Recht auch effektiv gewährleisten zu können, wurden daher als Maßnahme der "affirmative action" die Wahlkreise zum Teil so konstruiert, dass Afroamerikaner als Mehrheitsbevölkerung in diesem Wahlkreis auch tatsächlich die Chance hatten, mehr als einen Abgeordneten aus einem Bundesstaat in den Kongress zu entsenden. Diese Vorgangsweise hat allerdings das US-Höchstgericht 1993 wieder für verfassungswidrig erklärt.

Trennung der Bürger

Nationalisten in Bosnien-Herzegowina versuchen immer wieder, die Zugehörigkeit zu ethnopolitischen Gruppen und damit die Trennung und Spaltung der Bürger entlang sogenannter ethnischer Kriterien zu fördern. Die EU-Delegation in Bosnien-Herzegowina unterstützt jedoch nicht nur die Änderung des Wahlrechts in der Causa Ljubić, sondern fordert auch die Umsetzung der Erkenntnisse des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach die Diskriminierung all jener in der Verfassung, die sich nicht zu den drei konstitutiven Völkern (Bosniaken, Serben, Kroaten) zählen, beendet werden muss. Offiziell sollen in beiden Bereichen Reformen durchgeführt werden. Doch die HDZ will gar keine Verfassungsreform, weil sie durch eine Besserstellung der Bürger (jenseits von ethnopolitischen Gruppenrechten) eher an Macht verlieren würde.

So fordert die HDZ in einem ersten Schritt eine Umsetzung des Ljubić-Urteils, obwohl dieses ja bereits umgesetzt ist, wie Marko erklärt. Erst in einem zweiten Schritt soll dann über die Verfassung und die Beendigung der Diskriminierung gesprochen werden. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass die HDZ nach der Umsetzung ihrer Ziele noch an irgendeiner anderen Reform interessiert ist. "Ich glaube aber schon, dass die EU-Delegation weiß, dass das eine taktische Falle ist, und sich nicht darauf einlässt", so Marko zum STANDARD. (Adelheid Wölfl, 11.3.2021)