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Die "New York Times" profitierte in Sachen Leserzahlen von der Ära Donald Trump, ein Richtungsstreit bleibt ihr aber nicht erspart.

Foto: AP/Richard Drew

Washington – Im April vor einem Jahr, als fast alles eintrat, was er vorausgesagt hatte, sei er in der öffentlichen Wahrnehmung der düstere Prophet der Seuche gewesen, schreibt Donald McNeil Jr. Noch Wochen zuvor, erinnert er sich, habe er als der Verrückte gegolten, dem keiner glauben wollte, was er über das Coronavirus sagte: "Das ist es, The Big One, es wird eine Pandemie." Im Oktober dann, als er am Horizont die ersten Impfstoffe sah, sei er als dunkler Prophet mit optimistischer Ader charakterisiert worden. Und im Dezember schrieb der 67-Jährige, offenbar ein Freund gewagter Vergleiche, habe er sich ein bisschen gefühlt wie ein auszurangierendes Konföderierten-Denkmal. "Ich denke, so langsam haben die Leute genug von mir. Sie warten darauf, dass ich einen Fehler mache, sodass sie mich runterziehen und auf mir herumtrampeln können."

Der Anker der Corona-Berichterstattung

Vor wenigen Tagen hat McNeil, in der Redaktion der "New York Times" lange Zeit zuständig für das Gesundheitswesen, auf der Onlineplattform "Medium" geschildert, wie er das zurückliegende Jahr erlebt hat, nämlich als wilde Fahrt auf der Achterbahn. 1976 fing er bei der "NYT" an, bei der Gray Lady, der Grauen Dame, wie man sie wegen ihres hochseriösen, zugleich spröden Erscheinungsbilds nannte. Später wurde er Auslandskorrespondent, in Frankreich und in Südafrika, wo er preisgekrönte Reportagen über die Aids-Epidemie schrieb, Texte, die zu seinem Wechsel ins Gesundheitsressort führten. McNeil widmete sich der Vogelgrippe, der Schweinegrippe, dem Zika-Virus. Mit seiner Erfahrung und seinen Kontakten zu Virologen wurde er so etwas wie der Anker der Corona-Berichterstattung, sowohl in der Zeitung als auch im Nachrichtenpodcast "The Daily", dem modernen Aushängeschild der Gray Lady. Sars-CoV-2, warnte er am 27. Februar 2020, werde sich zu einer globalen Katastrophe ausweiten, ähnlich tödlich wie die Spanische Grippe. Damit war er der allseits anerkannte Prophet der Krise – bis er vor einem Monat seinen Hut nahm, nachdem ihm die Chefredaktion dies nahegelegt hatte.

Reise nach Peru

Die De-facto-Entlassung hat weder mit seinen Artikeln noch mit seinem Alter zu tun. McNeil ist 67, in den USA, wo man ein festes Pensionsalter nicht kennt, gibt es etliche Printjournalisten seiner Generation, die das Profil ihrer Blätter nach wie vor prägen. McNeil wurde zum Verhängnis, dass er auf einer der Bildungsreisen, wie sie die "NYT" ihren Lesern anbietet, das Schimpfwort "Nigger" benutzte. Im Sommer 2019 begleitete er eine Gruppe von Schülern nach Peru. Es ging um indigene Traditionen und Gesundheitsfürsorge im ländlichen Raum. Die Eltern der Teenager hatten tief in die Tasche gegriffen, der zweiwöchige Trip kostete pro Person fast sechstausend Dollar, Flugtickets nicht mitgerechnet.

Danach gingen bei der "NYT" Beschwerden über den Journalisten ein. Von mangelndem Respekt für andere Kulturen war die Rede, vor allem aber davon, dass er das diskriminierende N-Wort benutzte. In Peru hatte man darüber diskutiert, ob es richtig war, eine seinerzeit zwölfjährige Schülerin, die es gebrauchte, vom Unterricht zu suspendieren. McNeil fragte, in welchem Zusammenhang sie es verwendet habe, ob sie rappte, einen Buchtitel zitierte oder es tatsächlich beleidigend meinte. Einige der Teenager, unterstützt von ihren Eltern, nahmen ihm übel, dass er sich dabei selbst des diskriminierenden Begriffs bediente.

Brief an den Herausgeber

In New York entschied Dean Baquet, der erste schwarze Chefredakteur in der Geschichte der Grauen Dame, dem Reporter eine "zweite Chance" zu geben, da er das N-Wort nicht in böswilliger Absicht wiedergegeben habe. Das änderte sich, als im Jänner das Internetportal "Daily Beast" die Anschuldigungen öffentlich machte. 150 Redakteure der "NYT" schrieben einen Brief an den Herausgeber, um genauere Untersuchungen sowie eine Entschuldigung McNeils zu verlangen. Der bat daraufhin um Verzeihung, was aber nichts daran änderte, dass ihm die Chefetage empfahl, eigene Wege zu gehen. "Wir tolerieren keine rassistischen Sprüche, unabhängig von der Absicht", sagte Baquet. Im Übrigen habe McNeil das Vertrauen der Redaktion verloren.

"Ende der Arschloch-Ära"

In seinem auf "Medium" veröffentlichten Essay fragt der Geschasste Wochen später mit sarkastischem Unterton, ob sein Rausschmiss – mit den Worten eines Magazins – tatsächlich "das Ende der Arschloch-Ära" bei der "NYT" markiere. Und ob er in Peru mit unschuldig neugierigen Schülern diskutiert habe. Oder mit Privilegierten, die ein Studium an einer Elite-Uni anpeilten und ihren Lebenslauf noch ein wenig "aufpolieren" wollten. Ben Smith, der Medienkolumnist des Blatts, stellt andere Fragen. "Ist die 'Times' die führende Zeitung für gleichgesinnte, zur Linken tendierende Amerikaner? Oder versucht sie die Mitte zu halten, die scheinbar verschwindende Mitte in einem zutiefst gespaltenen Land?"

Die gerade in der Trump-Ära rasant gestiegene Zahl von Digitalabonnenten, orakelt Smith, könnte zur Folge haben, dass man sich den Ansichten links denkender Leser stärker verpflichtet fühlt. Dass man sich in eine engere politische Fahrbahn drängen lässt, statt wie bisher peinlich genau auf parteipolitische Unabhängigkeit zu achten.

Mehr als sieben Millionen Abonnenten

Tatsächlich hat die Marke "NYT" die Zeitungskrise bestens gemeistert. 2014, als Baquet Chefredakteur wurde, in der Geschichte der Gray Lady der erste Afroamerikaner auf diesem Posten, hatte sie rund zwei Millionen Abonnenten. Heute sind es mehr als sieben Millionen, wobei das Plus ausschließlich auf einen Zuwachs im Digitalen zurückgeht.

Donald Trump erwies sich als Glücksfall für das Blatt, gegen das er hemmungslos wetterte, auch wenn er ihm in Wahrheit größte Beachtung schenkte, symbolisiert es in seinen Augen doch jene New Yorker Elite, die ihn, den Angeber aus Queens, nie wirklich akzeptierte, obwohl er so gern dazugehört hätte. In seinen vier Jahren im Weißen Haus hat sich die Zahl der Leser verdoppelt – auch weil viele in der "New York Times" das Flaggschiff publizistischen Widerstands gegen Trump sahen. (Frank Herrmann, 12.3.2021)