Foto: Kate Wagner / mcmansionhell.com

Sie sind viel zu groß. Sie vermischen Architekturstile, bis es kein Halten gibt. Sie lassen Dachformen und Fenster kollidieren, bis die Geometrie kapituliert. Sie scheren sich nicht um Proportion und Symmetrie. Sie haben acht Schlafzimmer, vier Bäder und ein Heimkino. Sie sind sehr, sehr beige. Sie sind McMansions – die amerikanischen Riesenvillen, die sich ab den 1990er-Jahren ausbreiteten.

Kate Wagner wählt in ihrem Blog McMansion Hell seit 2016 die groteskesten unter ihnen aus und kommentiert sie, sehr lustig, aber auch ernst. Denn sie erklärt auch die architektonischen Regeln, die hier reihenweise verletzt werden. Ihr Blog wurde so erfolgreich, dass die 27-Jährige heute hauptberuflich Architekturkritikerin ist. Dem STANDARD erklärt sie, was McMansions mit der amerikanischen Seele zu tun haben, und was ein "Anwaltsfoyer" ist.

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STANDARD: Woher stammt der Begriff McMansion, und was ist Ihre Definition davon?

Kate Wagner: Viele glaube, ich hätte ihn erfunden, aber das stimmt nicht! Er wurde im gleichen Jahr geboren wie ich, 1993. Damals als abwertende Bezeichnung für Häuser, die groß und protzig, aber billig gebaut waren. Für mich ist eine McMansion ein Haus, das so viele Symbole von Reichtum wie nur möglich unter einem Dach vereint. Gigantische Foyers, Heimkino, Hausbar. Die Kombination dieser Symbole ist nicht immer erfolgreich, und das ergibt diese collagehaften aufgeblasenen Bauten, die von innen nach außen entworfen wurden. Es ist eher ein kultureller als ein architektonischer Begriff. Und dieses Anhäufen von allem, ob Land, Reichtum, Raum oder Dinge, ist sehr amerikanisch.

STANDARD: Ist dieses Anhäufen und Herzeigen etwas typisch Neureiches? Sind McMansions die Einfamilienhausversion von Donald Trump?

Wagner: Schon im 19. Jahrhundert haben Neureiche Häuser bevorzugt, auf die die Elite abschätzig herabgeblickt hat. McMansions sind keine Ausnahme. Der Unterschied ist, dass es in den USA nicht den Unterschied zwischen Groß- und Kleinbürgertum gibt wie in Europa. Hier wohnen die Milliardäre genauso in McMansions, nur eben in noch größeren.

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STANDARD: Wenn man die Interieurs betrachtet, fragt man sich, wo um Himmels Willen die Bewohner diese Ideen herbekommen. Aus dem Fernsehen, aus Zeitschriften, von Influencern?

Wagner: Zur Hochphase der McMansions, in den 1990ern und frühen Nullerjahren, hat sich der kulturelle Konsum der Wohnungseinrichtung verändert. Damals kam mit HGTV ein neuer Trend auf, der den Besitz von Häusern zu einem süchtigmachenden Entertainment aufheizte. Es war wie ein Wettrüsten: Wenn dein Haus als Luxus gelten soll, musst du diese und jene Dinge besitzen. Darin zeigte sich, was Amerikaner als "das gute Leben" verstehen: Viel Zeugs zu besitzen.

STANDARD: Das heißt, die Glanzzeit der McMansions ist schon vorbei?

Wagner: Damals planten und kauften die Leute Häuser als flüssiges Kapital, als Dinge, die konsumiert, verkauft und wiederverkauft werden konnten. Seit der Finanzkrise geht es ums Umbauen, also darum, dasselbe Ding immer wieder neu zu konsumieren. Eine permanente Verwandlung, durch die das Leben magischerweise besser werden soll, obwohl das Renovieren in Wahrheit eine schmutzige und stressige Sache ist. Die Medien haben sich dem angepasst, auf HGTV laufen andauernd Shows, in denen Frauen mit Vorschlaghämmern auf Wände eindreschen, und wissen Sie warum? Weil Männer da gerne zusehen. Je mehr Wände von Frauen demoliert werden, desto höhere Einschaltquoten. Und das ist der Grund, warum offene Grundrisse heute so beliebt sind in den USA.

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STANDARD: Die Fotos der Häuser zeigen einen wilden Stilmix von französischen Chateaus bis Tudor-Fachwerk. Wollen die Besitzer mit ihrer Wahl etwas ausdrücken, oder ist es einfach Dekor von der Stange?

Wagner: Diesen Stilmix gibt es, seit wir architektonische Details in Masse produzieren, also seit dem 19.Jahrhundert. Damit konnte man sich Bauteile und Ornamente leisten, deren Produktion früher oft Jahrzehnte dauerte. In den 1920er Jahren gab es schon eine Tudor-Mode in den USA, während Kirchen und Universitäten auf gotisch machten. Deswegen bezeichnen viele, und auch ich, die McMansions als Neo-Eklektizismus. Häuser aus dem Katalog.

STANDARD: Sie haben auf McMansion Hell fast jedem US-Bundesstaat einen Beitrag gewidmet. Sind die Stile landesweit gleich verteilt, oder gibt es regionale Unterschiede?

Wagner: Es gibt Unterschiede. Im Südwesten dominiert Mediterranes, in den Südstaaten Southern Colonial und Greek Revival, gerne mit mächtigen Säulen. Im Nordosten gibt man sich "europäisch", und in den Rocky Mountains hat man Blockhaus-McMansions. Aber daneben gibt es immer noch sehr viele, die an keinem Ort wirklich Sinn ergeben.

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STANDARD: Faszinierend sind die Innenräume, die oft so absurd groß sind, dass sie ihre Fläche mit zusätzlichen Möbeln füllen, die niemand braucht, damit es nicht leer aussieht.

Wagner: Was mir immer wieder auffiel, ist der enorme Abstand zwischen Eltern und Kindern. Als ich 12 war, besuchte ich eine Freundin, deren Familie in einer McMansion wohnte. Wenn sie von ihrer Mutter etwas wollte, rief sie sie am Telefon an. Im selben Haus! Alle Familienmitglieder waren gefühlte Meilen voneinander entfernt. Es gab Zimmer, die niemand benutzte, in denen nur irgendwelches Zeug herumstand. Das Haus war angefüllt mit Dingen, aber fühlte sich leer und traurig an. Es war auch eine sehr unglückliche Familie. Während wir in einem Haus mit drei Zimmern wohnten und glücklich waren, weil wir uns räumlich nahe waren.

STANDARD: Weil die Nähe einen dazu bringt, soziale Fähigkeiten zu entwickeln?

Wagner: Und das ist ja auch lebensnotwendig! Wenn Leute, die in McMansions aufgewachsen sind, aufs College kommen, sind sie völlig überfordert, weil das Leben dort sehr gemeinschaftlich abläuft, McMansions aber immer die größtmögliche Distanz zu anderen Menschen schaffen wollen. Deshalb auch die Hausbars und die Heimkinos, mit denen eine Art soziales, urbanes Leben simuliert wird. In eine Bar oder ins Kino zu gehen, ist eine sehr soziale Erfahrung, ich finde es sehr seltsam, so etwas in den eigenen vier Wänden nachzubauen.

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STANDARD: Es sind wie Bühnen, auf denen man ein ideales Leben darstellt.

Wagner: Und das ist narzisstisch und kindisch, wie Rollenspiele im Kindergarten. Man spielt Scarlett O’Hara, wenn man unterm Torbogen die Tür zum zweigeschossigen Foyer aufsperrt. Es ist sehr amerikanisch, Versionen von sich zu spielen, die anders sind als die Version, die man zuhause ist. In den McMansions ist man aber auch zuhause dauernd Schauspieler. Psychologisch bedenklich.

STANDARD: Apropos Foyer: Ein wiederkehrendes Feature auf McMansion Hell ist das "Lawyer foyer". Was ist das genau?

Wagner: Dieser Begriff hat sein Vorbild in der "L.A. Door", die der Architekturtheoretiker Charles Jencks 1978 in seinem Buch "Daydream Houses of Los Angeles" beschrieben hat. Eine sehr hohe Tür mit Fenster darüber und Kronleuchter dahinter. Ich habe es "Lawyer foyer" genannt, zum einen, weil hochkarätige Rechtsanwälte die typischen Bewohner von McMansions sind, zum anderen, weil die Foyers ihrer Anwaltskanzleien oft genauso aussehen. Das Anwaltsfoyer symbolisiert Macht und Autorität, und als Besucher fühlt man sich klein. Nebenbei ist "Lawyer foyer" auch einfach ein hübscher Reim.

STANDARD: Ist es also der Hauptzweck dieser Häuser, Wohlstand nach außen zu zeigen und die Nachbarn zu beeindrucken?

Wagner: Schon, aber das ist etwas sehr Menschliches, das man nicht abtun sollte. Jeder will nach außen gut dastehen. Wenn ich auf Zoom bin, setze ich mich natürlich auch vors Bücherregal, und wer sich als Designexperte versteht, braucht heute eine instagramtaugliche Wohnung. Bei den McMansions kommt nur dazu, dass sie in einer sehr dunklen kulturellen Periode entstanden sind.

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STANDARD: Was war Ihre erste Erfahrung mit McMansions? Gibt es einen Gründungsmythos?

Wagner: Ich war früher immer die erste im Schulbus und saß ganz hinten auf dem Einzelsitz, weil ich allein sein wollte. Ich schaute aus dem Fenster und hörte CDs – damals hatte man noch CD-Player –, und draußen zogen diese Häuser vorbei. Ich wuchs auf in North Carolina, einer Gegend voller Golfplätze, um die sich seit dem 19. Jahrhundert eine Art spezieller Wohlstands-Sommerhaus-Architektur gebildet hatte. In den letzten 20 Jahren nahm diese Entwicklung dramatisch zu, und die Wälder hinter unserem Haus wurden von diesen riesigen Häusern weggefressen. Als Teenager hat mich das sehr verbittert, wie es bei Teenagern üblich ist, wenn man denkt, dass es keine Gerechtigkeit auf der Welt gibt. Die Idee zum Blog hatte ich aber erst viel später, mit 22. Lange her!

STANDARD: Das Blog begann als privater Scherz, aber dann kam der Moment, wo Ihre Abonnentenzahlen über Nacht durch die Decke gingen.

Wagner: Ja, ich "ging viral", wie man so sagt, das war sehr surreal. So etwas passiert einem einfach, ich weiß bis heute nicht, wie. Versicherungen nennen das ein "Elementarereignis". Ich wohnte in einer WG, komponierte nachts seltsame Orgelmusik und studierte tagsüber Akustik. Das Blog war nur ein lustiger Zeitvertrieb zwischen Freunden, aber nachdem er viral ging, wurde ich Vollzeit-Autorin.

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STANDARD: Ein Teil des Erfolgs lag sicher daran, dass es vorher kaum Blogs mit dieser Art Architekturkritik gegeben hatte.

Wagner: Ich bin mit dem Internet aufgewachsen. Ich war sehr fasziniert von Web Comics, die so um 2005 populär waren, und die Texte mit Bildern kombinierten. Manche waren nur lustig, andere literarisch oder seltsam. Es war ein richtiges Millennial-Ding! McMansion Hell ist im Grunde mehr ein Web-Comic als ein Blog. Es ist Kulturkritik an Amerika und bringt etwas Humor in die Architektur und macht sie greifbarer. Es hätte aber trotzdem nie so gut funktioniert, wenn die Häuser selbst nicht so lustig und lächerlich wären.

STANDARD: Neben der Präsentation absurder Häuser setzt sich McMansion Hell auch ernsthaft mit Architekturregeln auseinander, und erklärt Symmetrie, Säulenordnungen und Gauben. War dieser Bildungsauftrag von Anfang an geplant?

Wagner: Ich tue das aus einer Art Pflichtgefühl heraus. Wenn ich mich schon über diese Häuser lustig mache, habe ich auch die Verantwortung, das architektonische Grundwissen der Öffentlichkeit zu verbessern. Ein zweiter Grund ist schlicht, dass die Witze auf der Seite so besser funktionieren. Man kann keinen Witz über Gauben machen, wenn niemand weiß, was eine Gaube ist.

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STANDARD: Jetzt würden viele sagen, man soll sich nicht über die Leute lustig machen, wenn sie nun mal so wohnen wollen. Glauben Sie, dass die Bewohner diese Häuser wirklich wollen?

Wagner: Auf eine Weise schon. Ich selbst liebe auch die schwarze Marmor-Arbeitsplatte in meiner Küche, weil schwarzer Marmor in der Küche gerade allgemein als attraktiv gilt. Ich frage mich oft, was ich tun würde, wenn ich so viel Geld hätte, um mir eine McMansion zu leisten. Ich würde vermutlich in einem architektonisch bedeutsamen Appartement mit Designermöbeln wohnen. Damit bin ich nicht automatisch etwas Besseres als jemand, der sich eine Hausbar in den Keller stellt. Es sind einfach verschiedene Symbole des Geschmacks. Die Frage ist nur, ob wir unseren Geschmack ab und zu kritisch hinterfragen sollten, und genau das macht McMansion Hell.

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STANDARD: Das macht McMansion Hell zu einem guten Argument gegen die Behauptung, über Geschmack ließe sich nicht streiten, als ob Geschmack etwas wäre, mit dem man geboren wird, und das sich niemals ändert.

Wagner: Diese Frage, ob es einen objektiven guten Geschmack gibt, beschäftigt die Philosophen seit Platos Zeiten. Und es gibt die Argumente, jeder Geschmack sei guter Geschmack, und man dürfe Leute nicht kritisieren für das, was sie mögen, weil sie sonst verletzt sind. Das halte ich für dumm und kindisch. Viele denken, Kritik wäre das Gegenteil von Wertschätzung, aber Kritik hat immer damit zu tun, dass man etwas mag. Es ist Wertschätzung plus Kritik plus Urteil. Fähigkeit zur Kritik ist ganz wesentlich für eine Gesellschaft, weil sie uns hilft, das große Ganze zu sehen. Gute Kritik zieht keine willkürlichen Grenzen des Geschmacks, sondern ist inklusiv. Und deshalb sind McMansions faszinierend. Ich würde mich nicht mit McMansions beschäftigen, wenn ich sie nicht auch ein bisschen mögen würde! (Maik Novotny, 14.03.2021)