Emcke im Frühjahr 2020: "Abends beim ‚Scrabble‘ versucht meine Freundin, das Wort Axtmord zu bilden, nun ja, ein bisschen früh im Verlauf der häuslichen Rückszugs-Phase, wie mir scheint, aber wer weiß, was noch kommt ..."

Foto: Andreas Labes

Im Frühling sehen wir uns wieder. Das war nun ein paar Monate lang der Horizont für Menschen, die sich an die Kontaktbeschränkungen nach Möglichkeit gehalten haben und die Freundschaften auf später vertrösten mussten. Nun ist der Frühling fast schon da, sogar ein bisschen zu früh vielleicht, das Jahr wird schneller warm, als es der Kalender vorgesehen hätte.

Der Frühling des Jahres 2021 bedeutet aber auch: Wir sind jetzt wieder da, wo wir vor einem Jahr waren. In diesen Wochen beginnen sich die Erfahrungen zu wiederholen. Im März 2020 gab es diesen Übergang von einem vermeintlich normalen Leben in einen Ausnahmezustand. Einen plötzlichen Übergang, den viele Menschen mit konkreten Momenten verbinden. Das für längere Zeit letzte Bier in einem vollen Wirtshaus, der letzte Sex mit einer außerhäuslichen Bezugsperson (der Begriff war uns damals noch nicht geläufig), der letzte Flug einmal um die Ecke wegen einer Lappalie. Das alles gab es danach auch noch und wieder, aber die paar Wochen von März bis Mai, Juni 2020 waren geprägt durch eine deutliche Unterbrechung. Und im Herbst 2020 drohte diese Unterbrechung chronisch zu werden, denn vor einem Jahr begann der Lockdown schon im Zeichen des Frühlings, im November stand er dann aber im Zeichen abnehmender Helligkeit.

Pandemietagebuch

In dem Journal, das die deutsche Autorin Carolin Emcke während der ersten Corona-Wochen geführt hat, wird dieses merkwürdige Jahr mit seinen besonderen Zeitlichkeiten noch einmal deutlich. Tagebuch in Zeiten der Pandemie lautet der Untertitel. Das Buch enthält Aufzeichnungen, die am 23. März 2020 beginnen und am 29. Mai 2020 enden. Dazu ein Postskriptum aus dem November 2020, das wiederum einen Rückblick auf ein Tagebuch aus dem Jänner 2017 enthält. Dieser Exkurs hat mit Donald Trump zu tun, der nun einmal für die Wahrnehmung vieler Zeitgenossinnen in den letzten Jahren eine strukturierende Figur war, auch für Emcke.

Als Corona plötzlich da ist, reagiert sie mit einem naheliegenden Impuls: Sie sucht Bewegung und nimmt sich vor, den Berliner Bezirk Kreuzberg einmal zu Fuß zu umrunden. Hinausgehen ist nach wie vor erlaubt, für Leserinnen in Österreich wird ein Aspekt bei der Lektüre des Journals von Emcke vielleicht auch darin liegen, eine gewisse grundrechtliche Restsorgfalt in den deutschen Maßnahmen zu erkennen, während man in Österreich gerade im Frühjahr 2020 auch mit einer deutlichen Untertanenadressierung arbeitete. Aus reiner Schikane einen Bundesgarten zu sperren, das wäre in Berlin, wo Emcke lebt, nicht gegangen.

Wenn eine Vertreterin der liberalen Öffentlichkeit ein Journal schreibt, dann wird man kein hochpersönliches Dokument erwarten, sondern eines, in dem eine Frau sich als Stimme für eine allgemeine Erfahrung nimmt. Das macht Emckes Text durchaus auch ein bisschen spröde, selten einmal finden sich Vignetten wie die folgende: "Abends beim Scrabble versucht meine Freundin das Wort Axtmord zu bilden, nun ja, ein bisschen früh im Verlauf der häuslichen Rückszugs-Phase, wie mir scheint, aber wer weiß, was noch kommt – und so winke ich allerlei nicht ganz Duden-sichere Begriffe großzügig durch." Die Stelle bekommt eine starke Resonanz später, als Emcke ein Gerichtsverfahren gegen einen Mann besucht, der (in einem Zustand von Schuldunfähigkeit) seine von ihm getrennt lebende Ehefrau angegriffen und lebensgefährlich verletzt hatte – und der, in einem Glaskasten sitzend, seine "wütende, brüllende, verzweifelte Energie" hinausschreit. Emcke fällt auf, dass an diesem 28. April kaum jemand Mund-Nasen-Schutz trägt im Gericht und dass überhaupt ein ganzer institutioneller Bereich, in diesem Fall das Gerichtswesen, relativ normal weiterläuft trotz der Pandemie. Rückblickend wäre das noch einmal eine Überlegung wert gewesen, wann genau in Deutschland eines der größten Versäumnisse der ersten Wochen begriffen und korrigiert wurde: Dass Masken ein wichtiges Mittel gegen die Verbreitung des Virus sind, wurde erst mit deutlicher Verzögerung akzeptiert, nämlich dann, als sie auch wieder zu kriegen waren.

Zu sich selbst auf Distanz gehen

Carolin Emcke hat die Aufzeichnungen nicht später noch einmal für die Buchausgabe überarbeitet, jedenfalls deutet sie diesbezüglich nirgendwo etwas an. Der Eindruck einer gewissen Filterung, einer Zurückgenommenheit von unmittelbarem Erleben, hat wohl damit zu tun, dass sie schon damals mit dem Blick auf eine Publikation geschrieben hat. Und dass Tagebücher ja prinzipiell dazu dienen, zu sich selbst ein wenig auf Distanz zu gehen. So hat man beim Lesen doch immer wieder den Eindruck, dass der Text auf ein Wir hinauswill, dem das Ich nicht zu persönlich werden soll: "Wir haben die Erwartungen an uns selbst, wer wir sein wollen und können, so heruntergeschraubt, dass wir nicht einmal mehr spüren, wie wir versagen", schreibt sie, als die Diskussionen über die frierenden Kinder in den griechischen Notunterkünften für Geflüchtete unabweislich werden und doch so geführt werden, als könnte man sie beiseiteschieben. "Es sollte gar niemand unter solchen Bedingungen leben", setzt Emcke fort und lässt damit die Beobachtung über einen unlösbaren Widerspruch in einen Appell münden. Das entspricht ihrer Rolle. Sie ist eine der Stimmen im deutschsprachigen Raum, die als Gewissensinstanz fungieren: Mit ihren Erfahrungen aus Krisengebieten, mit ihren Erfahrungen in einer lesbischen Beziehung, mit ihrer Rolle als Autorin und Friedenspreisträgerin gehört sie zu dem "kulturellen Immunsystem", das eine Gesellschaft vor Ressentiment und Gewalt schützen soll.

In einem der letzten Einträge geht es um den Tod von George Floyd, und in dem Postskriptum dann um die Abwahl von Donald Trump. "Was für ein Jahr", schreibt Emcke. "Was für ein verwirrendes, brutales, unbegreifliches Jahr." Vermutlich gehört das Unbegreifliche insgesamt zu den Bedingungen des Lebens. Die Welt ist heute anders unbegreiflich als vor 500 oder 5000 Jahren. Carolin Emcke hat trotzdem das Beste versucht, die Monate mit Corona ein wenig begreiflich zu machen. Paradoxerweise entsteht dadurch aber der Eindruck, dass der Text diese Zeit nicht ganz trifft. Es ist alles da, aber es fehlt etwas, was diesen Ausnahmezustand anders erschließen könnte als mit den geläufigen intellektuellen Mitteln. "Wir sehen uns dann im Frühling", schreibt Carolin Emcke. Nun ist der Frühling schon fast da, sie wird die Boulekugeln hervorholen, die ihr während des ersten Lockdowns so viel Freude bereitet haben. Der Sommer 2020 erwies sich als trügerisch. Vielleicht wird Argwohn das Erbe, das von dieser Pandemie am längsten bleiben wird. (Bert Rebhandl, ALBUM, 13.3.2021)