Was ist geblieben vom Corona-Tagebuch des Vorjahres, geschrieben in der Atemlosigkeit der letzten vier Tage vor dem ersten Lockdown?

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Der Krieg ist aus, und ich muss gehen." Egon Schiele stirbt am 31. Oktober 1918, dem Tag der Auflösung der k. u. k. Monarchie – und dem Tag des Begräbnisses seiner an der Spanischen Grippe verstorbenen schwangeren Frau. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erkrankt innerhalb weniger Wochen ein Drittel der Weltbevölkerung, die Seuche fordert mehr Tote als der Krieg.

Trotzdem findet die Spanische Grippe erstaunlich wenig Niederschlag in der zeitgenössischen Literatur. Albert Camus’ jetzt wieder die Bestsellerlisten stürmender Klassiker Die Pest erschien 1947 und beschreibt eine andere Krankheit: den Faschismus.

Warum war das so? Waren die Menschen, die Schreibenden, des Sterbens müde? Hungrig und ausgelaugt von einem Krieg, wie er noch nie da gewesen war? War die Seuche also nur eine von vielen Todesarten, zu banal, um extra besungen zu werden?

"Kein Ende ist das Allerletzte, sondern Konstrukt und Funktion seiner – scheiternden Darstellung. Das Sterben als zu Ende Gehen des Lebens lässt sich darstellen, nicht der Tod als das Ende selbst. Tod ist kein Inhalt: blackout", bringt es der Kulturwissenschafter Christiaan L. Hart Nibbrig auf den Punkt. Und an der Spanischen Grippe stirbt man schnell. Zu schnell für einen Bildungsroman.

Der Zauberberg von Thomas Mann erschien 1924 und spielt in einem Sanatorium in Davos, in dem sich mancher Tuberkulosekranker in intellektueller Gesellschaft Zeit lassen darf mit dem Sterben. Sieben Jahre verbringt der Protagonist Hans Castorp dort, der Roman endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Beinahe zehn Jahre also vergingen zwischen dem Ende der erzählten Zeit und deren Beschreibung. Müssen wir also zehn Jahre auf den bahnbrechenden Corona-Roman warten, der es auf ewig in den literarischen Kanon schafft? Dazu möge gesagt sein, dass es manche AutorInnen immer schon stärker zur Krankheitsdarstellung zieht als andere: In Thomas Manns Werken wimmelt es nur so von Heil- und Badekuren, Schlafstörungen, Typhus, Missbildungen unterschiedlicher Art und Zahnweh. Allein den "Infektionskrankheiten im erzählerischen Werk Thomas Manns" wurde eine eigene wissenschaftliche Abhandlung gewidmet.

Das Tagebuch ist das intimste Werk, es lebt von der Nähe. Als literarische Form ist es eine Lüge. Zum Zwecke der Veröffentlichung geschrieben – oder eine solche zumindest nicht ausschließend – tritt die Auto(r)zensur auf den Plan. Freundlicher formuliert: die Fiktionalisierung. Das literarische Ich ist eben nicht eins mit der Person des Autors, der Autorin.

Jede andere Lektüre ist naiv, für den Laien legitim, für den Kritiker katastrophal. Kein Tagebuch wird erst viele Jahre nach den Ereignissen verfasst – es sei denn, es ist autofiktional – und damit Poesie. Auch der manische Tagebuchschreiber und spätere Nobelpreisträger Elias Canetti wählte und ließ für seine Publikationen aus. Kindheitserinnerungen wie in Die gerettete Zunge, Autobiografisches wie in Die Fackel im Ohr und Das Augenspiel sind literarische Lebensgeschichte ex post. Das Tagebuch ist facettenreich: ob kindlich naiv ("Liebes Tagebuch"), scheinbar realitätsnah, verspielt, vulgär, militärisch, meteorologisch.

Es ist Journal, literarische Autofiktion oder Fact-Fiction-Biografie. Es wird als literarische Form gern belächelt – vor allem, wenn es von Frauen verfasst ist. Es unterliegt, wie alle ästhetischen Hervorbringungen, den Moden seiner Zeit. Es wird verdammt oder – wie zum Beispiel Rolf Dieter Brinkmanns collagiertes Journal Rom, Blicke – gefeiert. Es ist Kult oder Kitsch, je nachdem, wie es den Zeitgenossen beliebt. Was bleibt, zeigt sich immer erst später.

Es ist auffallend, dass viele der ab dem letzten Jahr erschienenen Corona-Tagebücher Auftragswerke sind (so auch mein Beitrag vom 22. März 2020 für das ALBUM). Diverse Literaturhäuser kompensieren durch Covid-19 entfallende Lesungen durch Serien von Corona-Tagebüchern, die den AutorInnen in Lockdown-Zeiten zumindest ein wenig Honorar und Aufmerksamkeit bringen sollen. Ob diese Texte auch ohne Bestellung geschrieben worden wären – wir wissen es nicht.

Faktum bleibt, dass es vorwiegend Werke der eher leichteren Muse sind, die dem Thema Corona bisher gewidmet wurden (die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel): "Im Hamstern eine Eins", "Erwachen – Eine Reise in Corona-Zeiten", "Der Corona-Mann", "Es begann in Wuhan", "Testergebnis: Liebe" ... Wer vermag zu sagen, welche Titel davon bereits auf dem Markt sind und welche Persiflage? Sehr wohl neu erschienen sind eine Reihe von Sachbüchern zum Thema.

Ansonsten droht keine Inflation der Seuchenliteratur. Im Gespräch mit Autorinnen und Autoren ist auch keine gesteigerte Tendenz zum Thema feststellbar: Zu ungewiss ist die Entwicklung. Und wer möchte schon in zwei Jahren mit einer völlig falschen Einschätzung der Lage zwischen zwei Buchdeckeln verewigt sein?

Gefährliche Prognosen

Beim Thema 9/11 bedurfte es für die wirklich guten Bücher eines Abstands von einigen Jahren. So erschien Jonathan Safran Foers Roman Extrem laut und unglaublich nah erst 2005, Katharina Hacker holte sich für ihre Bearbeitung des Themas in Die Habenichtse 2006 den Deutschen Buchpreis. Gut Ding braucht also Weile. Mit dem bahnbrechenden Covid-Roman ist frühestens 2023 zu rechnen. Aber Prognosen sind gefährlich. Gerade in Zeiten wie diesen.

Was ist geblieben von meinem Corona-Tagebuch des Vorjahres, geschrieben in der Atemlosigkeit der letzten vier Tage vor dem ersten Lockdown? Die Vermutung der Möglichkeit einer symptomlosen Ansteckung hat sich leider bewahrheitet. Ausgangs- und Reisebeschränkungen sind zu unserem Alltag geworden.

Die EU wirkt schwach, es gibt kein einheitliches europäisches, geschweige denn globales Vorgehen. Eine Pressekonferenz jagt die andere, Tirol bleibt im Fokus. Auf die ersten Impfungen werden aufgrund der Mutationen jährlich weitere folgen müssen. Ja, auch wenn es uns nicht gefällt: Das ist erst der Anfang. (Tanja Paar, ALBUM, 13.3.2021)