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Zwei, die 2018 zum Kompromiss-Schließen wild entschlossen schienen: Kim Jong Un und Donald Trump.

Foto: Evan Nucci/AP

Die zutiefst menschliche Fähigkeit, Kompromisse zu schließen, gehört zu jenen sozialen Fähigkeiten, die man häufig lieber abnickt, anstatt sie mit Macht ins Herz zu schließen. "Kompromiss", das Versprechen, die je andere Position anzuerkennen, steht als reichlich blasser Eintrag im Phrasenbuch verzeichnet: als Baustein für Festtagsreden, oder als Verpflichtung zum Stillhalten auf kommunalen Politikertagungen.

Als sekundäre Tugend missverstanden, zum rechtschaffenen Bruder von Treu‘ und Redlichkeit erklärt, verpflichtet der Kompromiss niemanden zum Ernstmachen. Wer daher, wie aktuell der deutsche Philosoph Andreas Weber, dem Interessenausgleich voller Elan das Wort redet, muss für die altmodische Nachgiebigkeit neue, verführerische Töne anstimmen.

Webers erstaunliches Büchlein "Warum Kompromisse schließen?" (Dudenverlag) gleicht am ehesten einer Erweckungsfibel. Etwa zur Mitte des Buchs muss der Autor sehr ernst daran erinnern, wohin wir es mit unserer Kompromisslosigkeit gebracht haben. Im ursprünglich protestantischen Bestreben, das irdische Jammertal trotz Erbsündenlast gehörig "aufzupimpen", muss die reale Welt als Schauplatz des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse herhalten.

Vollkommene Welt?

Die Vervollkommnung der hiesigen Verhältnisse duldet keine Halbheiten. Wer guten Willens ist, fordert Gerechtigkeit um jeden Preis. Tugendextremisten sämtlicher Couleurs lassen sich umso bereitwilliger zum "Gewalthandeln" hinreißen. Kompromisslosigkeit, häufig zur Maxime politischen Handelns erhoben, verlegt die Auszahlung "ewigen" Lohns ins Diesseits. Zugleich bildet Kompromisslosigkeit den Quellgrund von Tugendterror, Segregation und Unterdrückung.

Zu den faszinierenden Volten in Webers Argumentation gehört eine Form des doppelten Nachweises. Auf der einen Seite steht das kapitalistische Ideologem vom allseitigen Nutzen, der ausgerechnet aus der konsequenten Verfolgung von Eigeninteressen resultieren soll. Ein Reinfall auf Raten: Wachstum löst dem Prinzip nach Beziehungen auf. Konkurrenten müssen aus dem Feld geschlagen werden. Die "unsichtbare Hand" des Marktes ist nicht zum Teilen verpflichtet.

Umgekehrt erzeugt die unausgesetzte Jagd auf das persönliche Glück ("Pursuit of Happiness") die Fratze der Rechtschaffenheit. Die angeblich gottgewollte "Tüchtigkeit" der amerikanischen Mehrheitskultur dient in den USA zur Rechtfertigung der weißen Überlegenheit.

Autoren wie James Baldwin benannten als Triebfeder des Rassismus die Ausblendung weiter Teile der Wirklichkeit: als Auto-Immunisierung, als Irrglaube, alles im Griff zu haben – und dadurch das vermeintlich Non-Perfekte ("Nicht-Weiße") ausschließen zu müssen. Insofern bildet Rassismus die ultimative Form von Kompromisslosigkeit: die plumpe Durchsetzung widerspruchsfreier Verhältnisse. Kompromissloses Handeln ist Gewalthandeln, das sich in Anbetracht seiner Opfer selbst mit Blindheit schlägt.

Höchste Ziele

Das Annehmen der Bedürfnisse anderer aber verlangt das Stecken höchster gattungspolitischer Ziele. Webers Vorschlag zur Güte gellt als ökologisches Wecksignal durchdringend in den Ohren. Der Kompromiss, "der von uns" als menschlicher Gattung akut gefordert werde, bestehe im Knüpfen eines neuartigen Beziehungsgeflechts. Vonnöten seien Verständigungsleistungen, die über zwischenmenschliches Schulterklopfen hinausreichen.

Schleunigst ins Benehmen setzen sollen wir uns demgemäß mit Bäumen, Büschen, Blumen, Mikroalgen. Die Aufwertung der Biosphäre zum Verhandlungspartner bringt einen kategorial neuen "Player" ins Spiel: Mutter Natur, von manchen "Gaia" genannt, die seit geraumer Zeit unter akuten klimatischen Wechselbeschwerden leidet.

Der "Pakt der Gegenseitigkeit mit allen Wesen" müsste, um volle Wirksamkeit zu entfalten, umfassend geschlossen werden. Er wäre das prototypische Beispiel eines "Vollblutkompromisses" (so Politologe Amitai Margalit): einer, der nicht nur die Spielregeln neu festlegt, sondern die Aufteilung der Spieler von Grund auf neu sortiert. Das von Weber geforderte Lauschen auf "das Summen erster Hummeln" gehört zu den kitschigen Nebenwirkungen einer Kompromisskur, die uns erst noch bevorsteht. (Ronald Pohl, 13.3.2021)