Das klaffende Loch – der Tagebau Garzweiler II – rückt immer näher an Keyenberg heran.
Foto: Flora Mory/Marten Reiß

Vor der Heilig-Kreuz-Kirche in Keyenberg versuchen 300 Menschen, Platz und Abstand zugleich zu finden. Einige halten Kreuze in die Höhe. Es ist Sonntag. Doch es handelt sich keineswegs um eine religiöse Zeremonie. Es sind keine Passionskreuze, die emporgehoben werden, sondern zwei gelbe, verschränkte Balken – das Symbol der Braunkohlegegner.

Die kürzlich getroffene Entscheidung des Aachener Bistums wird vorgelesen: Die historische Kirche wird vorerst doch nicht entwidmet. Jubel bricht aus. Auch Barbara Oberherr, die in der Kirche geheiratet hat und ihre Kinder dort hat taufen lassen, ist sichtlich erfreut. Solange die Entwidmung aussteht, kann das Backsteingebäude nicht abgerissen werden. Für Oberherr und ihre Mitstreiter ist der Entscheid des Bischofs ein langersehntes Zeichen der Unterstützung für ihren Kampf: Sie fordern nicht nur, dass man die Kirche im Dorf lässt, sondern vor allem, dass man Keyenberg als Dorf belässt.

Braunkohlegegner vor der Heilig-Kreuz-Kirche in Keyenberg.
Foto: Flora Mory

Alles hier soll wegen der darunterliegenden Braunkohle weggebaggert werden. Auch die alten Gutshäuser, an denen die Demonstranten vorbeiziehen. Sie machen beim Ortsschild halt. Dort versperren ein Metallgitter und gefällte Bäume eine Straße, die ins Nichts führt. "Nichts", das ist im Rheinischen Braunkohlerevier in Nordrhein-Westfalen keineswegs ein abstraktes Konzept: Es ist ein Loch namens Garzweiler II, das alles Leben verschlingt. In den vergangenen 15 Jahren wurden hier sechs Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, die Erde selbst wurde weggebaggert. Ein weiteres Loch, das seit den 1960er-Jahren etliche Dörfer schluckte, wurde wieder zugeschüttet. Übrig bleibt eine der dystopischsten Landschaften Europas. Ein leerer Krater, in etwa so groß und so tief wie der Attersee. Nur eine kleine Tafel weist darauf hin, wer hier am Werk ist, aber alle wissen es: Der Energieriese RWE.

Machtdemonstration

Schon von weitem sieht man seine Bagger schaufeln. Einer ragt mit einer Höhe von fast einhundert Metern über die Abrisskante hinaus. Dahinter dominieren RWE-Kohlekraftwerke und ihre Dampfglocken die Landschaft. 2023 soll Keyenberg, so der Plan, mitsamt der Kirche, den 318 Häusern und dem Boden, auf dem es steht, im Loch verschwinden.

Die meisten Keyenberger sind schon weggezogen. Barbara Oberherr nicht. Sie gehört zu jenen sogenannten "Dörflern", die wagen, es mit RWE aufzunehmen. Sie weigern sich, ihren Grund an den Konzern zu verkaufen. Ein Jahr nachdem die Regierung den Ausstieg aus der Kohle beschlossen hat, hoffen sie, dass sie das nahende Ende der Kohleverstromung vor der Zwangsumsiedlung bewahrt.

Doch schon jetzt werden umliegende Straßen abgetragen und Bäume am Dorfrand gefällt. Die durch die Corona-Pandemie verminderte Aufmerksamkeit werde genutzt, um neue Fakten zu schaffen, murrt man in Keyenberg. Man halte sich nur an den Fahrplan, sagt dagegen RWE. Denn mit dem Kohleausstieggesetz trat ein Vertrag in Kraft, dem zufolge RWE Anspruch auf die Kohle unter sieben noch bestehenden Dörfern im Revier hat, die in den nächsten sieben Jahren abgerissen werden sollen. Fünf sind teils noch bewohnt. Insgesamt werden 1500 Menschen umgesiedelt, damit weitere 630 Millionen Tonnen Kohle aus dem Tagebau in den umliegenden Kraftwerken, die zu den schmutzigsten Europas gehören, zu Strom werden. Nirgendwo sonst wird so viel CO2 in die Luft geschleudert – und das vielleicht noch 17 Jahre lang.

Denn das Gesetz legt zwar die schrittweise Abschaltung der Braunkohlekraftwerke bis 2038 fest. Die meisten werden aber erst nach 2034 abgeschaltet und sollen bis dahin mit Kohle aus Garzweiler II versorgt werden.

Barbara Oberherr wurde zur Klimaaktivistin.
Foto: Flora Mory

Oberherr wollte sich der Umsiedlung einst fügen. Erst als sie sich über die ökologischen Folgen von Kohlestrom informiert habe, sei sie zur Aktivistin geworden, erzählt die 60-Jährige und eilt an die Spitze des Protestzugs, um das Mikrofon zu ergreifen: "Ich habe Keyenberg zu retten – und wir alle einen ganzen Planeten", skandiert sie unter lautem Jubel. Dieser Schlachtruf hat bereits ihren Auftritt auf der Uno-Klimakonferenz in Madrid 2019 geprägt.

Für ihre heutige Rede hat sich Oberherr vor einem bestimmten Grundstück positioniert: der Obstwiese zwischen Keyenberg und dem Loch, sie liegt sozusagen an vorderster Front. Mehrere "Dörfler" haben den Grund gemeinsam erworben. Seit Monaten warten sie darauf, dass RWE den Antrag auf Abtretung ebendieser Parzelle stellt, sodass sie sich endlich gerichtlich zur Wehr setzen können. Oberherr und ihre Anwälte sind der Ansicht, dass der Gesetzgeber die Notwendigkeit des Tagebaus nicht nachweisen konnte und somit gegen das Grundgesetz verstößt. Dieses besagt, dass eine Enteignung nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig ist. Belegen sollen das mehrere Gutachten: Eines hatte der Regierung im Ringen um den Kohleausstieg nahelegt, dass der Braunkohlebedarf von RWE auch ohne weitere Umsiedlungen gedeckt werden könne. Wirtschaftsminister Peter Altmeier hat es zur Entrüstung der Abrissgegner ein Jahr lang unter Verschluss gehalten. Ein weiteres Gutachten kam zu dem Schluss, das RWE maximal noch 280 Millionen Tonnen Kohle fördern darf, um die globale Erhitzung auf 1,75 Grad zu begrenzen. Also ein Drittel der aktuell zur Förderung vorgesehen Menge.

Auch für den Thinktank Agora Energiewende kommt der Kohleausstieg zu spät. Die einflussreiche Berliner Denkfabrik betreibt wissenschaftliche Politikberatung. Ihr erklärtes Ziel: mehrheitsfähige Kompromisse für das Gelingen der Energiewende. Ein sofortiger Ausstieg aus der Kohle, wie ihn manche fordern, sei nicht machbar, erklärt Frank Steffe dem STANDARD. Der Anteil von Kohlestrom in Deutschland liegt noch immer bei rund 20 Prozent. Innerhalb von neun Jahren – also bis 2030 – könne der Ausstieg aber gelingen, so der Experte. Unter einer Bedingung: dass die Politik aufhört, den Ausbau erneuerbarer Energien zu bremsen. In einigen deutschen Bundesländern ist etwa eine 1000-Meter-Regel für den Mindestabstand von den Windrädern zur Wohnbebauung in Planung.

Braunkohle wird teurer

Optimistisch stimmen Steffe dafür Entwicklungen am Energiemarkt: Fallende Gaspreise, teurere CO2-Zertifikate und schärfere EU-Schadstoffregeln machen Kohlekraftwerke immer unrentabler. Deshalb lag im Corona-Jahr der Anteil an Erneuerbaren erstmals über dem von Kohlestrom. Die Unwirtschaftlichkeit der Kohle werde weiter zunehmen, sagt der Ökonom. Dies dürfte die Chancen auf einen früheren Kohlestopp deutlich erhöhen.

Dass sich der Markt zulasten der Kohle entwickelt, verneint auch RWE nicht. Nicht umsonst wird in erneuerbare Energien investiert, meint Guido Steffen, ein Firmensprecher. RWE versteht sich nicht als Kohlekonzern: Kohle macht nach Erdgas nur den zweitgrößten Anteil der Stromproduktion aus. Das Unternehmen, in dessen Aufsichtsrat übrigens auch Österreichs Ex-ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel sitzt, hält dennoch an der energiepolitischen Notwendigkeit von Braunkohle bis 2038 fest. Und die liegt eben unter Keyenberg. "Die Bagger stehen ja schon vor den Toren", sagt Steffen und spricht den Dörflern allen Grund zur Hoffnung ab. Mehr als 80 Prozent der Gründe in den betroffenen Gemeinden gehören laut Steffen schon RWE, für die Ex-Eigentümer gibt es ein "neues Keyenberg".

Das sieben Kilometer entfernte Bauland hat allerdings wenig mit dem alten Dorf zu tun. Statt romantischer Landidylle hat Neu-Keyenberg eher US-amerikanischen Vorortcharakter: eine unfertige, im Raster angelegte Siedlung – ohne Schule, ohne Nahversorgung, kein Wirtshaus, keine Bäume und keine Ställe für die zahlreichen Pferdebesitzer. Hier gibt es auch kein Ackerland für die Landwirte. "Man bekommt hier ein neues Haus, aber keine neue Heimat", erzählt Helmut Kehrmann beim Spaziergang durch den Ort. Das Fundament für eine neue Kirche ist gerade im Aufbau, der Friedhof, in den die Gräber aus dem alten Keyenberg verlegt werden, ist dagegen schon fertig. Kehrmann ist im Dezember hierhergezogen. Er hatte keine Wahl. Das Haus, in dem er bisher wohnte, stand auf Pachtland der Kirche. Diese hat den Grund bereits an RWE verkauft. Der Gram hat Spuren hinterlassen: Seine Frau, für die der Abschied vom Elternhaus traumatisch war, meidet das alte Keyenberg. Mit seinem Schwager, der Baggerfahrer bei RWE ist, spricht er nicht.

Helmut Kehrmann wurde umgesiedelt.
Foto: Flora Mory

Kehrmann ist 66 Jahre alt. Bis das neue Dorf Charakter entwickelt und die frisch gepflanzten Jungbäume heranwachsen, könnten Jahrzehnte vergehen. Vor allem Ältere, die ihr ganzes Leben in einem Dorf verbracht haben, trifft der Umzug hart. "Einen alten Baum verpflanzt man nicht", findet der Rentner.

Verhärtete Fronten

Insbesondere stört sich Kehrmann an den kahlen Sichtschutzmauern, die seine Nachbarn um ihre Häuser errichtet haben. Sie verleihen seinen Erzählungen, dass die Umsiedlung auch einen Keil in die Dorfgemeinschaft getrieben habe, Nachdruck. Weil RWE mit den Haushalten einzeln über die Entschädigungssumme verhandelt, sei Missgunst an die Stelle des Dorffriedens getreten. Plötzlich wollten alle den besten Grund ergattern.

Viele der umgesiedelten Keyenberger sind RWE aber auch wohlgesinnt: "Die Realität beginnt in sieben Kilometern", hat jemand aus Protest gegen die Dörfler auf die alte Ortstafel geschmiert. Der Konzern beschäftigt in der Region noch rund 10.000 Menschen im Braunkohlesektor. In der Energieversorgung einer Industrienation tätig zu sein erfüllt die Arbeiter am Tagebau mit Stolz. Das sagt auch der RWE-Mitarbeiter, der an der Abrisskante Wache steht und deshalb nicht fotografiert werden will. Seine Familie konnte sich dank Umsiedlung einen langersehnten Wohntraum in einem Neubau erfüllen. Und irgendwo müsse der Strom ja herkommen, jetzt da das Land aus dem Atomstrom aussteige, sagt der Wachmann pflichtbewusst. Er, der sein Leben lang für RWE gearbeitet hat, muss den Kohleausstieg nicht fürchten. Er ist wie die Mehrheit seiner Kumpel über 50. Laut einer Studie gehen die meisten bis 2030 in den Ruhestand.

Trotzdem fehlen der Region dann Jobs. Problematisch ist das auch für Betriebe, die indirekt von RWE profitieren: Bäckereien, Tankstellen, Restaurants. Daher hat der Bund Strukturhilfen von 40 Milliarden Euro für die Kohleländer beschlossen. Neben Nordrhein-Westfalen sind das Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg. Auch Kraftwerksbetreiber werden entschädigt. RWE bekommt 2,6 Milliarden Euro. Die EU prüft gerade, ob das zu viel ist und zu Marktverzerrungen führt. Was passiert, wenn RWE zu wenig Geld bekommt, zeigt der Konzern in den Niederlanden. Dort zog RWE wegen des vorgezogenen Kohleausstiegs vor das Schiedsgericht der Weltbank.

Ein Jahr nach dem Beschluss der großen Koalition in Deutschland, der Kohleverstromung ein Ende zu setzen, bleiben die Fronten auch im Revier verhärtet. Der RWE-Wachmann ist nicht ohne Grund im Einsatz: Hundert Meter weiter rollen Bagger. Die Häuser in Lützerath, einem Nachbarort Keyenbergs, werden zur Stunde unter dem Protest von Klimaaktivisten und dem letzten Anrainer abgerissen. In Keyenberg ist es nach der Demo hingegen ruhig: Hier wartet man auf eine Reaktion von CDU-Landeschef Armin Laschet.

Ende März soll das Land die Umsetzung des Ausstiegsgesetzes fixieren. Dann will auch der Bischof in Aachen über die Zukunft der Heilig-Kreuz-Kirche entscheiden. Der Abriss Keyenbergs dürfte lediglich um ein paar Jahre nach hinten verschoben werden. Die Dörfler hoffen aber, dass das Ergebnis der Bundestagswahl im September die Politik zu einem radikalen Kurswechsel und zu mehr Klimaschutz zwingt. (Flora Mory aus Keyenberg, 12.3.2021)