Das Rating der Kremlpartei Einiges Russland erinnert an eine Busfahrt mit dem seit den 80er-Jahren kursierenden PAZ-3205. Etwas rumplig und unbequem, aber am Ende kommt man doch ans Ziel.

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Der technische Börsenanalyst würde sagen: Der Abwärtstrend ist intakt. Bei der Sonntagsfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum kommt die russische Regierungspartei Einiges Russland nur noch auf 27 Prozent. Gegenüber dem vergangenen Sommer ist das ein Rückgang von vier Punkten.

Mehr noch: Damit unterbietet die Partei ihre eigenen mehrjährigen Tiefstände, die sie im Sommer 2018 und 2019 mit jeweils 28 Prozent Zustimmungswerten erreichte. Im Prinzip ist Einiges Russland damit auf ihr Rating kurz vor der Übernahme der Krim zurückgefallen. Damals hatte sich nach der Rückkehr Wladimir Putins in den Kreml eine gewisse Müdigkeit innerhalb der Bevölkerung breitgemacht.

Mit der Vereinnahmung der völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Halbinsel 2014 jedoch gelang Putin nicht nur außenpolitisch ein Coup. Auch im Land profitierten er und seine Partei lange davon. Damals gaben bis zu 70 Prozent der Befragten an, für Einiges Russland stimmen zu wollen. Von der nationalen Euphorie profitierte die russische Führung noch bis zu den Wahlen Anfang 2018 – den bis dato letzten auf föderaler Ebene –, auch wenn die Popularitätswerte bereits zu bröckeln begannen.

Neues Umfragetief

Das neue Umfragetief bestätigt die von politischen Beobachtern zuletzt immer häufiger vertretene Erkenntnis, dass der nationale Rausch, in den viele Russen nach der Krim-Annexion verfielen, endgültig vorbei ist und sich allgemein Ernüchterung im Land breitgemacht hat.

Dazu beigetragen haben eine Reihe von Faktoren: nicht zuletzt der seit 2014 sinkende Lebens-Standard mit den um mehr als zehn Prozent gefallenen Realeinkommen, die unpopuläre Rentenreform 2018 und natürlich auch die Corona-Krise, die zu einer gravierenden Übersterblichkeit und dem Sinken der Lebenserwartung um zwei Jahre (auf nun 71 Jahre) geführt hat.

Duma-Mehrheit möglich

Angesichts der im Herbst anstehenden Duma-Wahlen ist der Trend für Einiges Russland durchaus unangenehm. Andererseits spielen dem Kreml einige politische Faktoren in die Karten, sodass das Erreichen der einfachen Mehrheit im Parlament keine größere Hürde darstellt. Selbst die von der Präsidialverwaltung gewünschte Zweidrittelmehrheit ist mit dem nötigen administrativen Druck drin.

Wie es funktioniert? Zunächst einmal durch die vorherrschende politische Apathie und das Fehlen einer echten Alternative. Denn in der gleichen Umfrage haben gleich 39 Prozent der Russen angegeben, entweder nicht zur Wahl gehen zu wollen, nicht zu wissen, für wen sie stimmen, oder den Stimmzettel ungültig zu machen.

Allein dadurch erhöht sich der Anteil der abgegebenen Stimmen für Einiges Russland auf 42 Prozent. Ins Parlament kommen zudem nur "die üblichen Verdächtigen": Die populistisch-nationalistische LDPR käme dann auf 19 Prozent der Stimmen, die Kommunistische Partei (KPRF) auf 15 Prozent und Gerechtes Russland auf sieben Prozent. Alle anderen Parteien, darunter die sozialliberale Jabloko, scheitern jetzigen Projektionen nach an der Fünfprozenthürde. Zusammen erhält die "Systemopposition" damit zumindest per Listenwahl nicht mehr Sitze als die Regierung.

Abwärtstrend stoppen

Mit einigen Tricks kann dieser Prozentsatz noch gesenkt werden. Beliebtes Mittel sind Spoilerparteien. Schon jetzt nehmen die "Kommunisten Russlands" der KPRF auf diese Weise drei Prozent weg. Im Vorfeld der Wahlen wird die Zahl der (aus dem Kreml gesteuerten) Splitterparteien erfahrungsgemäß nur noch zunehmen.

Um den eigenen Abwärtstrend zu stoppen, setzt der Kreml neben einigen Wahlgeschenken, die wohl kurz vor der Abstimmung bekannt gegeben werden, auch wieder verstärkt auf administrative Ressourcen. Davon zeugt die Tatsache, dass in den Regionen wieder vermehrt Gouverneure als Zugpferd die Wahllisten anführen, womit ihre Verantwortung für ein gutes Ergebnis steigt. Mit der Verlängerung der Abstimmung auf drei Tage steigen heuer zudem die Manipulationsmöglichkeiten, da die Opposition keine Möglichkeit hat, die Wahl effizient zu beobachten.

Nawalny Nummer eins

Die Umfrage hat indirekt noch ein Ergebnis zutage gefördert: Alexej Nawalny, dessen Partei "Russland der Zukunft" nicht an der Wahl teilnehmen darf, hat sich entgegen den Behauptungen der Kreml-Apologeten, ein unbedeutender "Fünf-Prozent-Politiker" zu sein, zu Russlands wichtigstem Oppositionellen gemausert. Denn schon im Herbst, kurz nach der Vergiftung Nawalnys, hatte das Lewada-Zentrum herausgefunden, dass 20 Prozent der Russen die Tätigkeit des inzwischen in Haft sitzenden Politikers gut finden. Auch wenn sein Antirating mit 50 Prozent deutlich höher ist, könnte er mit diesem Ergebnis Einiges Russland mehr Konkurrenz machen als die LDPR um Populistenführer Wladimir Schirinowski.

Die wichtigste Aufgabe des Kremls besteht daher darin, Nawalnys Taktik der "intelligenten Abstimmung" (Vereinigung aller Oppositionsstimmen auf einen Gegenkandidaten von Einiges Russland) zu entschärfen. Denn die Hälfte der Parlamentarier kommt als Direktkandidat in die Duma. Eine Kampagne gegen die "intelligente Abstimmung" ist bereits angelaufen. (André Ballin, 13.3.2021)