Christina Salzborn sitzt dem Geschworenengericht vor, das darüber entscheidet, ob ein 25-Jähriger in der nächtlichen U-Bahn einen Mordversuch begangen hat.

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Wien – Raphael L. sitzt ein weiteres Mal vor einem Geschworenengericht, da er in der Nacht vom 24. auf den 25. Juni einem Mann ein Messer in den Oberkörper gerammt hat. Es ist dieselbe Tat, für die ihn am 20. November andere Laienrichter wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung verurteilt haben. Eine Entscheidung, die die damaligen Berufsrichter für einen Fehler hielten. Sie setzten das Urteil aus, das Verfahren muss daher mit neuen Geschworenen und einer neuen Vorsitzenden – diesmal ist es Vizepräsidentin Christina Salzborn – wiederholt werden.

Neu ist auch die Verteidigungslinie des mittlerweile 25-jährigen Unbescholtenen. Die Kanzlei Rast & Musliu scheint das medizinische Wunder vollbracht zu haben, L. seine Erinnerungen wiederzugeben. Hatte der Angeklagte bei seinem ersten Verfahren nämlich noch ausgesagt, er könne sich an die eigentliche Tathandlung in einem Zug der Linie U3 nicht mehr erinnern, weiß er nun, dass er seinen 29 Jahre alten Kontrahenten sicher nur in Schulter oder Oberarm stechen wollte.

Triste Kindheit des Angeklagten

Verteidiger Sinan Dikme drückt, genauer: Er quetscht auf die Tränendrüse. Er beginnt sein Plädoyer mit dem familiären Hintergrund des Angeklagten: das siebte von neun Kindern, den leiblichen Vater nie kennengelernt, häufig wechselnde Stiefväter. Der Auszug mit 18 ohne Ausbildung und ohne Job brachte nicht die erhoffte Verbesserung: L. wurde obdachloslos und trank zu viel.

Mittlerweile lebt er in einer Obdachlosenunterkunft und hat drei Kinder. L.s Verhältnis zu deren Mutter sei "extrem kompliziert", erklärt Verteidiger Dikme den Geschworenen, die Verbindung sei von Alkoholkonsum und Streitereien geprägt.

Mit Ersterem beschäftigte sich das Paar auch am Tatabend, wie der Angeklagte sagt. Er bekennt sich teilschuldig: "Ich wollte ihn verletzen, aber nicht töten", erklärt er Vorsitzender Salzborn. Er sei mit seiner Freundin unterwegs gewesen, habe eineinhalb Flaschen Wodka konsumiert. Vom Kardinal-Nagl-Platz fuhr man Richtung Ottakring, beim Volkstheater stieg Opfer M. zu.

Auseinandersetzung nach Beleidigung

Der war auch nicht mehr nüchtern, was ein Grund sein kann, warum ihm sein Skateboard auf den Boden fiel. L. fand das lustig und lachte, M. nannte ihn daraufhin "Vollspasti". Es folgte ein Wortgefecht, ab dann gehen die Schilderungen auseinander. Sicher ist anhand der Überwachungsvideos nur, dass M. den Angeklagten in der Station Neubaugasse aus dem Zug stieß. Beim neuen Prozess sagt M., er habe vermutlich das 13 Zentimeter lange Küchenmesser des Angeklagten gesehen.

Auf dem Überwachungsvideo ist tatsächlich zu sehen, dass L. das Messer vom Bahnsteig aufklaubt, ehe er wieder in den Zug einsteigt. Der Angeklagte vermutet aber, dass ihm der Gegenstand beim Sturz aus seinem Rucksack gefallen sein müsse. "Wieso haben Sie überhaupt ein Messer dabei?", fragt eine Geschworene. Die Küche seiner Unterkunft sei derart verschmutzt, dass er lieber im Freien esse, erklärt ihr der Angeklagte.

Angst und Wut als Motive

Im Zug hatte M. sich schon wegbewegt, die Freundin des Angeklagten war ihm aber nachgegangen. L. ging zu den beiden, hatte nach eigenen Angaben Angst vor dem Älteren. "Sie hatten Angst? Warum steigen Sie dann zurück in den Zug und bewegen sich noch zu M. hin?", glaubt die Vorsitzende dem Angeklagten nicht recht. Der gibt dann zu, auch wütend gewesen zu sei, da M. ihn vor den Augen seiner Freundin aus dem Zug geworfen hatte.

Auf der kurzen Fahrt zwischen den Stationen Neubau- und Zieglergasse kam es dann zum Stich. Auf den Videos ist zu sehen, dass sich M. bei L.s Attacke mit beiden Armen an Haltestangen festhielt und danach ungläubig das T-Shirt hochschob. Der Angeklagte bleibt diesmal dabei: Er habe den Gegner in Schulter oder Oberarm stechen wollen, durch die Bewegung des Zuges und seine Alkoholisierung habe er danebengestochen.

Allerdings: Laut dem medizinischen Sachverständigen Christian Reiter entspricht die Wunde der Klingenlänge – L. muss also mit aller Kraft zugestochen haben. Und es gibt eine zweite, oberflächliche Verletzung, was sich mit der Schilderung des Zeugen deckt, dass L. zweimal zugestochen habe. Verteidiger Dikme ist allerdings in seinem Schlussplädoyer wichtig, den Ort der oberflächlichen Wunde in Erinnerung zu rufen: Es ist der Schulterbereich.

Angeklagter hielt selbst Polizei auf

Außerdem streicht Dikme das Nachtatverhalten seines Mandanten hervor: Er flüchtete mit seiner Freundin in der Zieglergasse aus dem Zug. "Bei einem Kebabstand habe ich dann gesagt, sie sollen die Polizei rufen", erzählt der Angeklagte. Das wollte dort niemand machen, also hielt L. einen Streifenwagen der Polizei auf, die bereits von Fahrgästen alarmiert worden war. "Das stimmt, die Polizei hat vermerkt, dass Sie gesagt haben, Sie hätten einen Blödsinn gemacht", stimmt Vorsitzende Salzborn zu.

M. wurde notoperiert und überlebte. Laut Sachverständigem Reiter aber nur mit Glück: Die Klinge verfehlte die Lungenschlagader nur knapp, wäre der Stichkanal nur wenige Millimeter anders verlaufen, wäre M. wohl verblutet.

Beim zweiten Versuch entscheiden die neuen Geschworenen im Sinne der Staatsanwältin. Mit fünf zu drei Stimmen, dem knappest möglichen Ergebnis, sprechen sie L. wegen versuchten Mordes schuldig. Die Strafe lautet auf zwölf Jahre Haft, dem damals unversicherten M. muss der Angeklagte 13.000 Euro an Behandlungskosten ersetzen. Sowohl die Anklägerin als auch der Verteidiger erbitten sich Bedenkzeit, das Urteil ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 15.3.2021)