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Für eine Reform des Wahlgesetzes in Bosnien-Herzegowina gibt es eigentlich keinen juristischen Grund. Dennoch wird seit Wochen darüber diskutiert.

Foto: AP Photo/Kemal Softic

Es war viel Lärm um nichts. Seit Wochen wird in Bosnien-Herzegowina über die Änderung eines Wahlgesetzes diskutiert, doch eigentlich gibt es gar keinen Grund dazu. Der österreichische Experte für die bosnische Verfassung, Joseph Marko, hatte im Gespräch mit dem STANDARD vergangene Woche darauf hingewiesen, dass das entsprechende Urteil zur Änderung des Wahlgesetzes längst umgesetzt wurde und sich daher gar keine rechtliche Notwendigkeit ergibt, eine weitere Reform in dieser Causa durchzuführen, wie dies die bosnisch-kroatische Partei HDZ vehement fordert.

Die Expertise des Verfassungsrechtlers Marko, der an der Universität Graz auch das Kompetenzzentrum Südosteuropa gründete, hat in Bosnien-Herzegowina für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Konkret geht es um die Umsetzung eines Urteils des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2016. Das Ljubić-Urteil folgte einer Beschwerde eines bosnischen Kroaten namens Božo Ljubić, der argumentierte, dass die Tatsache, dass aus allen zehn Kantonen des Landesteils Föderation jeweils mindestens ein Kroate in das Haus der Völker des Parlaments der Föderation entsandt werden muss, verfassungswidrig sei, weil dadurch angeblich die Gleichheit der drei konstitutiven Völker (Bosniaken, Serben, Kroaten) verletzt werden würde.

"Technisch sehr einfach"

Die HDZ hat es mit ihrer Lobbyarbeit sogar geschafft, dass die Umsetzung des Ljubić-Urteils in einem internen EU-Papier unter "Maßnahme 2" angeführt wird. In dem Papier, das auf der Plattform Istraga veröffentlicht wurde, heißt es, dass die Umsetzung "technisch sehr einfach" sei, man müsse nur jene Passage, die der Verfassungsgerichtshof in einem Nachfolgeurteil aufgehoben hat, durch eine andere ersetzen.

Doch Verfassungsexperte Marko sagt, dass genau das eben nicht notwendig ist. "Die anderen Vorgaben aus dem Abschnitt des Wahlgesetzes reichen völlig für die Mandatsverteilung aus", erklärt er dem STANDARD. "Denn durch den Ljubić-Fall und die nachfolgende Derogationsentscheidung, mit der der genannte Satzteil in Artikel 10.12 Paragraf 2 außer Kraft gesetzt wurde, bleiben die restlichen Bestimmungen der Artikel 10.10 bis 10.18 in Kraft und reichen als gesetzliche Grundlage für die Mandatsverteilung", so der Jurist.

Verfassung des Landesteils Föderation

Zudem sei die angefochtene Passage im Wahlgesetz nach wie vor in der Verfassung des Landesteils Föderation enthalten, so Marko. Und diese sei nicht vom Verfassungsgericht aufgehoben worden. "Da diesbezüglich aber eine verfassungskonforme Interpretation dieser Bestimmung möglich ist, braucht es eben keine Verfassungsänderung", betont Marko.

Es gibt also weder für die HDZ noch für andere Akteure einen juristischen Grund, das Gesetz zu reformieren. In dem EU-Papier wird jedoch im Zusammenhang mit Ljubić auf die Empfehlung "4 d" aus dem Schriftstück "Meinung der EU-Kommission zum Antrag Bosnien-Herzegowinas für einen EU-Kandidatenstatus" vom Mai 2019 verwiesen. In "4 d" empfahl die EU-Kommission Bosnien-Herzegowina 2019 "die Reform des Verfassungsgerichts, einschließlich der Behandlung der Frage internationaler Richter, und die Gewährleistung der Umsetzung seiner Entscheidungen". Da aber das Ljubić-Urteil längst umgesetzt ist, hat die Empfehlung "4 d" in diesem Zusammenhang gar keine Relevanz.

Angst vor Machtverlust

Die Motivation der HDZ in Bosnien-Herzegowina basiert nicht auf rechtlichen Argumenten, sondern ist machtpolitischer Natur. Die HDZ will, dass die Vertreter der Kroaten im Haus der Völker im Landesteil Föderation vorwiegend aus vier Kantonen kommen, wo sie selbst viel Macht hat. Durch solch eine neue Entsendeformel will sie sicherstellen, dass sie selbst die Regierung in der Föderation mitbestimmen kann und eine Vetomehrheit hat. Dazu braucht sie zwölf der 17 kroatischen Abgeordneten im Haus der Völker. Doch diese Blockademöglichkeit droht ihr auch wegen mangelnder Wählerunterstützung abhanden zu kommen.

So hat die HDZ im Kanton Zehn bei den Lokalwahlen 2020 ziemlich viel verloren. Sie erhielt etwa in der Gemeinde Livno nur mehr 33 Prozent, die Konkurrenzpartei HDZ 1990 lag bei über 24 Prozent und die neue "Kroatische Republikanische Partei" bei 12,6 Prozent der Stimmen. Vier Jahre zuvor hatte die HDZ noch knapp 43 der Wähler in Livno hinter sich scharen können. Die Wahlverluste hatten Konsequenzen – der Kanton Zehn (Livno) wird nun erstmals nicht mehr von der HDZ regiert.

Aus der HDZ ausgeschlossen

Weil aber der HDZ-Abgeordnete im Haus der Völker, Ivan Ivić, der Ernennung dieser neuen Regierung im Kanton Zehn zugestimmt hatte, musste er die eigene Partei im Februar dieses Jahres verlassen. Auch ein anderer HDZ-Abgeordneter, Stipan Šarac aus Tomislavgrad, wurde nach einem Streit mit der Partei ausgeschlossen. Deshalb kontrolliert die HDZ nun nur mehr elf statt 13 der insgesamt 17 kroatischen Abgeordneten im Haus der Völker der Föderation. Die Verluste im Kanton Zehn lassen aber auch das ursprüngliche Ziel der HDZ alt aussehen.

Denn völkische Nationalisten innerhalb der HDZ wollen bis heute – und das wollten sie schon während des Kriegs (1992–1995) – einen eigenen "kroatischen" Landesteil innerhalb von Bosnien-Herzegowina, genannt Herceg-Bosna. Sie vertreten eine Ideologie, der zufolge Menschen nach völkischen Kriterien voneinander getrennt regiert werden sollen. Sie sehen in den Menschen in erster Linie keine Bürger, sondern Angehörige einer "Ethnie".

Fehlende Umsetzung der EGMR-Urteile

Wenn nun die HDZ tatsächlich erreichen würde, dass die Entsendeformel in das Haus der Völker zu ihren Gunsten geändert wird – obwohl es rechtlich dafür keinen Grund gibt –, würden diese völkisch-nationalistischen Ansprüche gestärkt werden. Eigentlich müssten in Bosnien-Herzegowina jedoch längst andere Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) umgesetzt werden, die genau in die andere Richtung gehen.

Durch sie würde Bosnien-Herzegowina stärker zu einem Bürgerstaat werden, in dem alle Menschen gleich behandelt werden und in dem auch Juden oder Roma bei der Präsidentschaftswahl nicht mehr benachteiligt sind, was bislang nicht der Fall ist. Die EU-Kommission fordert seit Jahren die Umsetzung dieser Urteile. Die HDZ ist jedoch gegen eine dementsprechende Verfassungsänderung. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 16.3.2021)