Bei der deutschen analogen Wertarbeit: Hans-Joachim Roedelius (li.) und Dieter Moebius (1944–2015).

Foto: Bureau B

Natürlich stieg bereits lange vor "Cluster 71" deutsche elektronische Musik betörend in den Äther auf. Deren humorlose Schöpfer waren ursprünglich in Labormäntel gehüllt. Das dünne Haar trugen sie sorgsam gescheitelt. Ein Komponist wie Stockhausen benötigte in den 1950ern endlose Monate, um seinem Sinusgenerator zirpend Zukunftsweisendes in Fünfminutenlänge zu entlocken. Das Ziel: "Neue Musik". Deren Vertreter wiederum wollten mit den Machenschaften der aufsässigen Jugend möglichst wenig zu tun haben: den Wehrdienstverweigerern in Berlin, den Joseph-Beuys-Schülern in Düsseldorf.

Um kosmische Kurierdienste zu leisten, brauchte es – neben eminenter Klangfantasie – auch ein gerüttelt Maß an Unbedenklichkeit. Jemand wie Hans-Joachim Roedelius, neben Dieter Moebius die zweite, mehr bukolisch gestimmte Hälfte von Cluster, hatte aus der DDR in den Westen "rübergemacht". Roedelius, ausgebildeter Heilmasseur, lebt heute übrigens 86-jährig als weltweit anerkannter Oheim der Ambient-Musik in Baden bei Wien. Er ist der letzte Überlebende.

"Cluster 71" wurde vor genau 50 Jahren aufgenommen. Von Moebius und Roedelius, ohne Urmitglied Conrad Schnitzler, der seinerseits, als Maschinenschlosser, summende Generatoren beim Träumen belauscht hatte. Schnitzler schnallte sich Jahre später Tape-Recorder mit einer Metallkette um den Leib. Verstärker und Lautsprecher trug er am Helm durch angesagte Galerien spazieren: ein tönender Botschafter des synthetisierten Lauts. Für die zu diesem Zeitpunkt deutlich lieblichere Musik seiner beiden verbliebenen Cluster-Kollegen hatte er bloß Spott parat: "Wer weiß, hätte ich Klavier oder ein anderes Instrument spielen gelernt, würde ich vielleicht auch so unbedarftes Zeug machen …"

Bloß kein Kraut

"Cluster 71" aber war das genaue Gegenteil von Unbedarftheit. Keine Krautmusik! Moebius meinte später: "Die Bezeichnung Kraut-Rock ist Quatsch. Wären wir in Frankreich zuerst beachtet worden, hätte man uns womöglich Boche-Rock genannt – Hunnen-Rock-'n'-Roll!" Kraut? Eine Erfindung fantasiearmer britischer Journalisten, die beim seltsam eckigen Rock "made in Germany" vielleicht ihrerseits an Wehrmachtsverpflegung denken mussten.

Cluster waren jedoch mit keiner anderen deutschen Band vergleichbar. Nicht mit der Trance-Musik von Can, nicht mit dem Synthesizer-Geblubber von Klaus Schulze, nicht mit dem Räucherstäbchenpop von Popol Vuh. Stattdessen: ein Pochen und Knirschen, ein Klopfen und Würgen, als würden Generatoren vorsichtig die Gliedmaßen strecken.

Besonders Feinsinnige unter den Modulatoren imitieren Buckelwalgesänge. Leerstehende Fließbänder betteln um frisches Öl. Hüllkurven und Schwingungspulse, das Vibrieren von Modulatoren, unförmig wie Kleiderkästen: Aus einer Vielzahl von Klangsensationen entsteht ein Kosmos voller Möglichkeiten, flirrend wie am ersten Schöpfungstag.

Väter des Gepolters

Die drei Nummern von "Cluster 71" tragen die rein chronometrischen Titel "7:42", "15:43" und "21:21". Auch wenn die beiden regulären Alben der Vorgänger-Kombo Kluster vielleicht noch herzzerreißender quäkten: An "Cluster 71" führt kein Weg vorbei. Wer wissen möchte, woran Zivilisationszerstörer wie Throbbing Gristle (GB) ihr Gepolter schulten, der muss dieses Album wieder und wieder studieren.

Nur wenig später übersiedelten Moebius und Roedelius, die vom Kölner Engineer Conny Plank kongenial unterstützt wurden, ins Weserbergland. Die Musik wurde heiterer, der Beat treibender; auf dem Hof von Cluster summten alsbald fette Hummeln mit den Bandmaschinen um die Wette.

Auf Alben wie "Zuckerzeit" oder Roedelius' ingeniöser Solo-Arbeit "Jardin au Fou" (1979) lauscht man entzückt quietschenden Karussells und Spieldosen. Im Aussteigerklima der 1970er reisten Stars wie Eno persönlich an, um den Gebrauchsmusikern auf die Schliche zu kommen. Gott sei Dank gibt es heute Plattenfirmen wie Bureau B, die diese oszillierenden Klängen an Nachgeborene weiterreichen.

Man kann Schwärmen von maschinengenerierten Staren beim Aufflattern zuhören. Etwa auf dem posthumen Schnitzler-Werk "Paracon. The Paracon Session Outtakes 1978–1979". Man kann eine Folge der Vorabendserie "Der knallrote Autobus" anschauen, dazu eine Strickmütze Schlaf nehmen und von der Zukunft träumen – so wie sie vorgestern geklungen hat. (Ronald Pohl, 17.3.2021)