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Schlug der Vorstellung, die wir uns von der Realität machen, ein Schnippchen: Wolfgang Bauer, Dramatiker und Menschenfreund.

Foto: Hauswirth/picturedesk.com

Wolfgang Bauers (1941–2005) dramatisches Gesamtwerk besteht aus nicht weniger als 30 Titeln. Dieses Massiv bildet einen immer noch ungenügend erforschten Kontinent. Die Landmasse reicht bis in exotische Hotelzimmer hinein. In diesen kugeln Menschen herum, von bewusstseinserweiterten Substanzen verklärt, und durchleben ein und dieselbe Szene, geringfügig verändert, ein Dutzend Mal.

In Bauers Stücken rollen ohrenbetäubende Donner über die Szene. So auch in dem 2018 posthum uraufgeführten "Der Rüssel". Heute stellen "Magic Wolfis" absurde Spekulationen über Ich-Verlust und Wirklichkeitswahn eine Zumutung für den Betrieb dar. Dieser, abgemagert bis auf die postdramatischen Knochen, zeigt Bauers vertrackten Spielanleitungen zumeist die kalte Schulter.

Wäre da nicht "Magic Afternoon" (1968). An dieser lakonischen Pop-Art-Ode auf produktive Langeweile und unschöne häusliche Gewalt vermag die Welt sich bis heute nicht sattzusehen. Wer jetzt nicht die Bände der Werkausgabe bei Droschl und Ritter zücken will: vier Gründe für eine dringend nötige Bauer-Renaissance.

Happy Art & Attitude: Bauers Schaffen war von Anfang an nicht nur spaßig gemeint, sondern menschenfreundlich gedacht. Zusammen mit Gunter Falk machte der junge Bauer Mitte der 1960er das Grazer Forum Stadtpark unsicher. Dort kleckste man Farben und reichte man Palatschinken. Dazu wurden Boxkämpfe ausgetragen. Die neue Kunst sollte laut Happy-Art-Manifest "die Wiederversöhnung des Glücks mit der Vernunft" anbahnen. Die Weltrevolution hatte, von Graz ausgehend, unbedingt sanft zu sein und nach Puntigamer-Bier zu schmecken.

Spaß durch Quarantäne: "Magic Afternoon" wäre das Stück zur Pandemie. Während vor dem Fenster ein "herrlicher Sommertag" voller Vogelgezwitscher zum Träumen verführt, sitzen Birgit und Charly in einem "absichtlich ungeordneten Zimmer". Trotz bedrückender Langeweile scheint es ihnen unmöglich, ihr Refugium voller Rolling-Stones-Platten zu verlassen.

Ein Zitat lautet: "Das Leben ist eine Gewohnheit wie das Zigarettenrauchen". Die Verflüchtigung eines mit Händen greifbaren Lebenssinnes verführt die beiden zur Gewalttätigkeit. Die "superrealistische" Ödnis geht nicht etwa auf das Konto einer bösen Gesellschaft. Die verzweifelte Interaktion der Figuren, ihr haltloses Geplauder, folgt den Regeln eines Spiels. Leider scheint niemand – einschließlich des Autors – in Wahrheit dessen Gesetzmäßigkeiten zu kennen. Bauer wäre der Denker der Stunde, wie geschaffen zur Ausnüchterung von Aluhutträgern und anderen Verschwörungserzählern. Menschen manipulieren einander. Sie haben nur keinen Schimmer, warum.

Abschied vom Ich: Bereits mit "Magnetküsse" (1976) macht Wolfgang Bauer Schluss mit der Mär vom Hyperrealismus in seinen Dramen. In Stücken wie "Memory Hotel" (1980) wird man Zeuge einer szenischen Mehrfachbelichtung. Durch das Bewusstsein eines mutmaßlich sterbenden Autors, der fern der Heimat in einer Hotelanlage feststeckt, wehen Erinnerungsfetzen, die unaufhörlich die Gestalt wechseln.

Jede Szene überschreibt die vorhergehende. Das Subjekt wird zum Bündel widerstreitender Empfindungen. Während draußen die Palmen wehen und ein Hai den Delirierenden totbeißt, schwindet jede Hoffnung, den genauen Hergang der Ereignisse jemals "wahrheitsgemäß" rekonstruieren zu können. "Memory Hotel" gleicht einem Packen von Computerausdrucken.

Woher kommen wir?: In dem Singapur-Schwank "Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?" (1982) bewohnen vier Paare ein- und dieselbe Hotelsuite, nicht etwa nacheinander, sondern gleichzeitig. Bauers absurde Idee ist eine verkappte Feier reiner Virtualität: vier Filmstreifen, alle mit derselben Kameraeinstellung gefilmt, alle zur gleichen Zeit durch den nämlichen Projektor gejagt. Der Grazer Kraftdramatiker war seiner Zeit um Ewigkeiten voraus.

Sage übrigens niemand, Bauer verstünde nichts vom Erstellen eines Plots. Eine 70-jährige Geographin verspeist die Sonne und beginnt daraufhin zu leuchten. Warum, um alles in der Welt? "So ist eben die Welt, die hier geschildert wird." Ein Jahr vor seinem Tod sagte Bauer: "Dasein ist furchtbar…" Und: "Wir haben nicht die Chance, auf ein Paradies zu hoffen. Wirklich nicht." Aber wir besitzen sein Werk. (Ronald Pohl, 18.3.2021)