Im Juli 2020 wechselte der "Pikachu Illustrator" für 230.000 Dollar den Besitzer.

Foto: The Pokemon Company

"Zitterdoch nicht so, pack sie endlich ein", hört man eine Stimme aus dem Hintergrund, während tatsächlich zittrige Hände versuchen, eine Spielkarte in eine Hartplastikverpackung zu schieben. "Ich hab es, ich hab das Holo-Glurak, jetzt ist mir alles egal", sagt der Mann vor der Kamera und wirkt sichtlich erleichtert, fast schon befreit. Kein Wunder, er hält mit dieser Spielkarte rund 5000 Euro in den Händen.

Pokémon-Karten sind zu einer echten Wertanlage geworden. Bevor Sie jetzt aber in Ihrem Keller nach den Schätzen schauen, muss ich meinen vorherigen Satz korrigieren: Bestimmte Pokémon-Karten sind zu einer echten Wertanlage geworden. Nämlich die Exemplare aus der ersten Edition, die nicht mehr produziert werden und daher eine Seltenheit sind.

230.000 Dollar für eine Pikachu-Karte

Das Prozedere läuft meist so ab: Man kauft sich ein originalverpacktes Display, darin enthalten sind in der Regel 36 Packs à meist elf Karten. Herkömmliche Displays kriegt man schon ab 100 Euro. Will man aber seltene Karten haben, sind die in den ebenfalls limitierteren Displays zu finden und kosten gerne mittlere fünfstellige Beträge.

Der Clou: Je nachdem, welche Karten in dem Pack vorhanden sind, können einzelne für, wie oben erwähnt, Tausende von Euro weiterverkauft werden. Die "Pikachu Illustrator"-Karte ist im Juli 2020 in Japan für 230.000 Dollar versteigert worden.

US-Firma bestimmt die Bewertung

Dabei kommt es vor allem auf den Zustand der Karten an. In dem Zusammenhang wird vom PSA-Wert gesprochen. PSA steht für "Professional Sports Authenticator" und ist eine Bewertungsfirma aus den USA, die seit 1991 verschiedenste Sportartikel bewertet. Angefangen von historischen Baseballs und Baseball- oder Basketballsammelkarten bis hin zu den Spielkarten des Pokémon-Universums mittlerweile.

Diese Firma entscheidet im Endeffekt über den Zustand (und damit auch über den Wert) der Karte auf einer Skala von eins bis zehn. Es werden sämtliche Faktoren beachtet: die Qualität des Drucks, wie zentral ist das Artwork auf der Front platziert, ist der Rand zu allen Seiten gleich breit. Eine seltene Karte zu ziehen reicht nicht. Sie muss auch in einem tadellosen Zustand sein.

Der Hype ist mittlerweile auch in Deutschland angekommen. Und dort betreiben es die, die es sich leisten können: Youtuber. Im Jänner dieses Jahres kauften Trymacs (der Herr, der am Anfang des Textes zitternd das Holo-Glurak gezogen hat) und PappaPlatte ein Display aus dem Jahre 1999 – für 40.000 Euro. Zur Feier des Tages kamen sie zur Übergabe im Anzug, das Geld hatten sie in bar dabei, an Trymacs Handgelenk die Platin-Rolex.

Minderjährige Zuschauer

Das Öffnen von Pokémon-Karten ist für Youtuber aktuell wohl das bestgeklickte Thema, auf das man sich stürzen kann. Die Abholung des Luxusdisplays hat rund 1,8 Millionen Klicks, die Streams verfolgen meist tausende Leute live.

Trymacs

Laut einer Umfrage des deutschen Medienpädagogischen Forschungsverband Südwest aus dem Jahre 2020 ist Youtube, und das seit Jahren, das beliebteste Internetangebot der Zwölf- bis 19-Jährigen. Man kann also davon ausgehen, dass ein Großteil der Zuschauerschaft dieser Streams minderjährig ist. Wie ist es also zu bewerten, dass Kinder reichen Männern dabei zuschauen, wie sie abertausende Euro für Karten ausgeben, mit denen sie in ihrer Jugend gespielt haben, nur um damit noch reicher zu werden?

Analogie zu Glücksspiel

Hannes Kolar, Leiter des Fachbereichs für Psychologie der Wiener Kinder- und Jugendhilfe sieht das Thema problematisch: "Diese Videos zeigen eine Analogie zu Glücksspiel. Man investiert Geld, und kann verlieren oder gewinnen. Ich gehe davon aus, dass mehr Videos ins Netz gestellt werden, in denen gewonnen wird. Schauen sich also Minderjährige diese Videos an, entsteht in ihnen der Eindruck, dass Gewinnen sehr wahrscheinlich ist. Das läuft natürlich auch bei den Erwachsenen so und ist das Fundament des Glückspieles als Wirtschaftszweig auf Kosten der Personen. Es kommt also zu einer Verfügbarkeitsheuristik: Durch persönliche Erfahrungen oder den Konsum von Medien kann es dazu kommen, dass wir die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses über- oder unterschätzen."

Besonders schwierig sei das im Zusammenhang mit der Marke Pokémon: "Die Pokémon-Karten sind dazu gut anschlussfähig zu jüngerem Publikum, weil in dieser Alterskategorie auch gesammelt wird. Kinder, die oft diese Videos konsumieren, werden also zu riskantem Verhalten geprimt, das kann einen ersten Schritt zur Spielsucht darstellen. Wirtschaftlich relevant wird das dann, wenn die Minderjährigen geschäftsfähig werden." Spielsucht wird in den Kommentaren unter den Videos auch den Youtubern selbst attestiert.

Aber ist das Öffnen von Pokémon-Karten im Internet wirklich als Glücksspiel zu werten? Der Rechtsanwalt und Youtuber Christian Solmecke hat sich der Frage angenommen. Laut ihm steht und fällt die Definition mit der Möglichkeit des "Totalverlustes": "Wenn ich mir jetzt für 50.000 Euro mehrere Booster-Packs kaufe und die aufreiße, kann es dann sein, dass der Wert nachher Null oder nahe Null ist?" So wie es beispielsweise bei Rubbellosen der Fall ist. Das ist strittig, sind doch die Karten der ersten Generation so oder so selten – man muss nur Glück haben, um die richtig seltenen zu erwischen.

Kanzlei WBS

Gerhard Strejcek, Professor am Zentrum für Glücksspielforschung der Universität Wien, sieht hingegen im unterhaltenden Charakter eine Schwierigkeit: "Wir haben in einem Kommentar in 2013 geschrieben, dass entgeltliche TV-Glücksspiele mit überwiegend aleatorischem (Anm. d. Red.: auf Zufall basierendem) Charakter Glücksspiele sein können. Mir kommt das effektvolle Öffnen von Pokémon-Karten verglichen damit als etwas Anderes vor" sagt er, und bringt ein anderes Beispiel ins Spiel: "Es gibt auch im Zivilrecht Vertragstypen, bei denen es Überraschungen über den Inhalt gibt, zum Beispiel beim Kauf in Bausch und Bogen – etwa dann, wenn jemand ganze Verlassenschaften zu einem fixen Preis erwirbt, ohne den wahren Wert der einzelnen Gegenstände zu kennen."

Youtuber besuchte Onlinekasinos

Glücksspiel ist auf Youtube kein neues Thema. Youtube-Star MontanaBlack hat in der Vergangenheit immer wieder auf seinem Stream Online-Casinos besucht und Spiele vor laufender Kamera gezeigt. Das bescherte ihm im Jahr 2019 eine Hausdurchsuchung. Im Juli desselben Jahres ist er dann vom Amtsgericht Buxtehude für das Vergehen der Werbung für eine unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels sowie die Teilnahme daran verurteilt worden. Das Verfahren ist dann gegen Zahlung einer Geldbuße von 30.000 Euro eingestellt worden.

MontanaBlack

Ob das Ziehen von Pokémon-Karten im Internet nun Glücksspiel ist oder nicht, kann noch nicht ausreichend geklärt werden – Expertenmeinungen sprechen dagegen. Aus Kinder- und Jugendschutzsicht ist das Thema aber sehr wohl präsent.

In einem Video aus dem Jänner dieses Jahres kann Youtuber Trymacs sein Glück selbst kaum fassen, er zieht reihenweise seltene Karten aus einem Display, das ihn 189 Euro gekostet hat: "Liebe Zuschauer, nicht zu Hause nachmachen, das ist unfassbar teuer, und man kann auch ultra floppen, das ist Glücksspiel, Finger weg, schaut nur die Streamer." (Thorben Pollerhof, 21.3.2021)