PiS-Parteivorsitzender Jarosław Kaczyński will kritische Historiker auf Linientreue bringen.

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In letzter Zeit mehren sich die Versuche, Historiker und Journalisten, die das Schicksal polnischer Juden unter der deutschen Besatzung wahrheitsgetreu schildern möchten, Repressionen auszusetzen. Der Prozess, geführt gegen die Professoren Barbara Engelking und Jan Grabowski, sowie die Einvernahme der Redakteurin Katarzyna Markusz sind nur jüngste Beispiele dafür", heißt es in einem Brief zur Verteidigung polnischer Historiker. Unterzeichnet wurde er von Michael Schudrich, Oberrabbiner von Polen, und Vertretern jüdischer Organisationen und jüdischen Intellektuellen.

Die renommierten Historiker Barbara Engelking und Jan Grabowski wurden angeklagt, weil sie in ihrem monumentalen Werk Dalej jest noc (Und immer noch herrscht Nacht), in dem sie das Schicksal der Juden in ausgewählten Landkreisen Polens unter deutscher Besatzung untersuchen, einen Dorfbürgermeister fälschlicherweise als Judenverfolger dargestellt hätten – in Wahrheit habe er Juden gerettet.

Verfolgungen

Eingebracht wurde die Klage von der betagten Nichte des längst verstorbenen Mannes. Sie warf den Historikern vor, sie hätten nicht nur das Ansehen ihres Onkels beschädigt, sondern die polnische Nation als Ganzes beleidigt. Finanziell und medial unterstützt wurde die Frau von einer rechtsnationalen Stiftung namens "Festung des guten Namens – Polish League against Defamation", die alles in Bewegung setzte, um die Sache vor Gericht zu bringen.

Die vermeintlich unabhängige Stiftung wird finanziert vom Justizministerium, geführt von Justizminister und Generalprokurator Zbigniew Ziobro, der sich zunehmend in der Rolle eines Großinquisitors zu gefallen scheint. Ziobro, einst treuer Gefolgsmann Jarosław Kaczyńskis, Chef der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), ist heute dessen Koalitionspartner, der allerdings die Autorität seines Ziehvaters immer öfter infrage stellt.

Konkret stützte sich die Anklage gegen die Historiker auf die Aussage einer jüdischen Überlebenden von 1950, die dem Bürgermeister bescheinigte, er habe Juden nicht drangsaliert, sondern gerettet. Jahre später bekannte sie vor der Shoah-Stiftung in Amerika, sie habe 1950 falsch ausgesagt, in Wahrheit habe der Mann an Judenverfolgungen teilgenommen. Diese spätere Version erschien Barbara Engelking glaubhafter.

Das hat Gründe: In den ersten Jahren nach der Befreiung von der Naziherrschaft wurden jüdische Überlebende in Polen in vielen Fällen bedroht, misshandelt oder gar ermordet, weil sie unbequeme Zeugen der Judenverfolgung durch Polen waren. Obendrein befürchteten viele, die zurückgekehrten Juden könnten ihr von Polen geraubtes Eigentum zurückverlangen.

Nirgends sicher

Die Verfolgung jüdischer Überlebender nach 1945 ist historisch belegt. Erschreckendes Beispiel ist der Pogrom von Kielce, wo im Juli 1946 über 40 Juden von Polen ermordet wurden. Der Grund: ein Ritualmordvorwurf. Ein Jahr nach Kriegsende! Kielce war nur die Spitze des Eisbergs, jüdische Rückkehrer waren nirgends ihres Lebens sicher, die Gesamtzahl der Todesopfer wird auf 500 bis 1500 geschätzt.

Die berechtigte Angst jüdischer Überlebender könnte die divergierenden Aussagen der von Engelking zitierten Jüdin erklären. 1950 musste sie um ihr Leben bangen, wenn sie gegen den Bürgermeister aussagte. Das Gericht in Warschau wollte 2021 davon nichts wissen und verurteilte die Historiker, sich bei der Nichte zu entschuldigen, was sie verweigerten und Berufung einlegten.

Es handle sich im Grunde nicht um einen Streit über historische Details, so der Mitangeklagte Jan Grabowski, sondern um den Versuch, unabhängige Forschung der staatlichen Kontrolle zu unterwerfen – es handle sich um eine "über den Forschern schwebende Peitsche".

Auch gegen die polnisch-jüdische Historikerin und Journalistin Katarzyna Markusz wurde die Anzeige nicht von staatlichen Stellen erstattet, sondern vom vorgeblich unabhängigen Institut für den Kampf gegen den Antipolonismus Verba Veritatis (Worte der Wahrheit), auch dieses vom Justizministerium finanziert. Schreckgespenst Antipolonismus. Auch Mazur, so der Vorwurf, habe in einem Artikel die polnische Nation beleidigt.

Historische Tatsache

Den Zorn der selbsternannten Geschichtswächter erregte vor allem ein Satz: "Werden wir den Tag erleben, an dem die polnischen Behörden auch anerkennen, dass die Abneigung gegenüber Juden unter Polen weit verbreitet war und die polnische Beteiligung am Holocaust eine historische Tatsache ist."

Die Staatsanwaltschaft konnte darin keinen Ausdruck von Antipolonismus erkennen und stellte die Untersuchung ein. Trotz allen Drucks gibt es immer noch Angehörige des Justizapparats, die nach ihrem Gewissen und nicht nach staatlichem Diktat handeln, wofür sie mit Sanktionen rechnen müssen.

"Genug der Schikanen gegen Patriotismus, Glauben und Anschauungen", wetterte kürzlich der Begründer des Zentrums für Monitoring des Antipolonismus, ein lokaler PiS-Politiker. Ein anderes Zentrum widmet sich dem Monitoring der "Christianophoie". Die reinste Paranoia.

Als seien diese Werte im heutigen Polen, beherrscht von Ultrapatrioten und fundamentalistischen Katholiken, ernsthaft gefährdet und nicht vielmehr die Freiheit der Meinungsäußerung und der Forschung. Als würden die zum Staatsfeind stilisierte "LGBT-Ideologie", also Lesben und Schwule, Flüchtlinge und dunkle antipolnische Kräfte aller Art unablässig darauf hinarbeiten, das christliche Polen zu vernichten.

Täter-Opfer-Umkehr

Die klassische Täter-Opfer-Umkehr. Da werden Verschwörungstheorien propagiert und Sündenböcke ausgemacht, wie zuletzt die kritischen Historiker, die sich mit unbequemen Themen befassen, über die die "wahren Patrioten" am liebsten den Mantel des Schweigens breiten würden.

Das Regime beansprucht die Deutungshoheit über die Geschichte für sich und lässt nichts unversucht, um Historiker und unabhängige Intellektuelle auf Linientreue zu bringen, wie das unter den Kommunisten hieß. Die Geschichte soll ohne Rücksicht auf Fakten, Beweise, Zeugen geschönt werden, tabuisierte Themen dürfen nicht angefasst werden, sonst drohen Repressionen. Die offizielle Wahrheit lautet: Die Polen waren immer nur Opfer, niemals Täter.

Ob sich diese verlogene Geschichtssicht auf die Dauer durchsetzen lässt, erscheint fraglich. Es gibt kein anderes Land in Europa, wo in den letzten Jahren so viel gründlich recherchierte Artikel und Bücher über die dunklen Flecken der jüngsten Vergangenheit erschienen sind. In dieser Hinsicht ist Polen ein Vorbild, trotz aller offiziellen Einschüchterungsversuche.

Vergiftete Atmosphäre

Dass ihre Macht über die Deutung der Geschichte Grenzen hat, mussten bereits die Kommunisten zur Kenntnis nehmen. Auch sie setzten alles daran, um ihre oft die Wahrheit ignorierende Geschichtsdeutung durchzusetzen. Trotz Zensur, Gefängnisstrafen und Berufsverboten scheiterten sie. Doch sie haben eine vergiftete Atmosphäre hinterlassen. An diese unseligen Zeiten fühlt man sich erinnert, wenn man den neuen "Kulturkampf" in Polen beobachtet.

Eines haben die Machthaber immerhin erreicht: Die Geschichte ist kein einigendes, identitätsstiftendes Element, sondern spaltet die Gesellschaft. Das möchten Kaczyński, Ziobro und Co nutzen, um ihre wackelnde Macht wieder zu festigen. Je mehr diese infrage gestellt wird, umso hemmungsloser greifen sie zu Repressionen aller Art. Neu ist der Versuch, unbotmäßige Intellektuelle materiell abzustrafen, etwa mit existenzbedrohenden Geldbußen.

Eine Methode, die in Putins Russland zum Alltag gehört. In Polen wird es nicht so leicht sein, die Zivilgesellschaft zu zerschlagen, die Medien gleichzuschalten und Andersdenkende zu marginalisieren. Polen ist nicht Ungarn und schon gar nicht Russland, die Zivilgesellschaft ist stark, und Forscher lassen sich nicht ins Bockshorn jagen, wie das Beispiel der genannten Historiker zeigt. Sie sind nicht allein, sondern stehen für viele. (Martin Pollack, ALBUM, 20.3.2021)