Anne Applebaum, Journalistin und Autorin, hat ein Buch über die Verlockung des Autoritären geschrieben.

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Vernunft, Rechtsstaatlichkeit, europäische Integration hier. Traumsedierte Nostalgie, Enttäuschung über die Leistungsgesellschaft, Anziehungskraft von Verschwörungshypothesen plus explosive Wut-Diskurse, globalfanatisiert via (a)soziale Medien, dort. Und mittendrin die Welt. Und die Regierungsform der Republik, die fragiler denn je erscheint.

Unter den passenden Bedingungen kann sich jede Gesellschaft von der Demokratie abwenden. "Und", so Anne Applebaum, die zwischen Polen und der Johns Hopkins University in Baltimore, USA, pendelt und für diverse internationale Zeitungen schreibt, "wenn man überhaupt etwas aus der Geschichte lernen kann, dann vielleicht, dass alle unsere Gesellschaften dies früher oder später tun werden."

Das ist der von Applebaum zu Beginn angestimmte Basso continuo, der Cantus firmus, der über fünf pessimistische Kapitel in eine optimistische Coda mündet. Die Amerikanerin, die in Yale und Oxford studierte, schrieb für den wirtschaftsliberalen Londoner Economist ebenso wie für den auch dort beheimateten konservativ-arroganten Spectator wie für die liberale Washington Post. Sie zog 1988 nach Warschau, wo sie heute mit ihrem Mann lebt, einem konservativen Politiker, Ex-Minister und seit 2019 Abgeordneter im Europäischen Parlament.

Keine Komplexität aushalten

Wie sich die Welt verändert, macht sie an zwei Privatfeiern fest, einer zu Silvester 1999 und einem Sommerfest 2019. Von den Gästen der ersten Party war 20 Jahre später kaum jemand geladen, ja viele einstige Freunde sprechen mit- und untereinander nicht mehr. Sondern sie diffamieren sich. Nicht wenige attackieren teilweise rabiat die liberale Demokratie. In Polen. In Ungarn. In Spanien, Italien, in den USA. Weil sie dem Autoritarismus verfallen sind.

Autoritärem verhaftet ist der Verhaltensökonomin Karen Stanner zufolge jemand, der keine Komplexität aushält, der allergisch ist gegen offen und differenziert ausgetragene Debatten und sie nicht aushalten mag, gleich ob links oder rechts, marxistisch oder reaktionär.

Die "illiberale Ein-Parteien-Herrschaft" hingegen ist ideologisch flexibel, sie dient einzig einem alliterierenden Mantra des Buchstabens M: Machtaufbau, Machtausbau, Machterhalt, Machtmissbrauch zum exklusiven Vorteil seiner selbst, seiner Sippe, seiner Nepoten.

Hoffärtige Meinungen

"Kann man denn", zitiert Applebaum aus den Tagebüchern des rumänischen Schriftstellers Mihail Sebastian, die dieser zwischen 1935 und 1944 führte, "mit Menschen befreundet sein, die eine Vielzahl abstruser Gedanken und Gefühle gemein haben – so abstrus, dass ich nur den Raum betreten muss, damit sie plötzlich in betretenes Schweigen verfallen?" Sebastian schrieb dies 1937 im faschistischen Bukarest, als immer weitere Teile der Intellektuellenszene sich radikalisierten und den zivilliberalen Diskurs beendeten, erschlugen und begruben.

Der griechische Philosoph Platon bekannte einst seine Angst vor "falschen Sätzen und hoffärtigen Meinungen" der Demagogen und davor, dass deren – angebliche oder fälschlich reklamierte – Volksherrschaft direkt in Tyrannei münden würde. Die Gründungsväter der amerikanischen Republik um Jefferson, Hamilton, James Madison und John Jay fürchteten nichts mehr als Korruption.

Und zwar nicht Korruption monetärer Art, sondern moralische Korruption durch, wie es der brillante Alexander Hamilton formulierte, einen Mann "mit einem Talent für billige Intrige und die Taschenspielereien der Popularität". Das hielt in den Vereinigten Staaten vom ersten Verfassungskongress 1787 bis zur Präsidentschaftswahl 2016.

Unübersichtliche Zeiten

Ist das Grundproblem des Liberalismus vielleicht, dass er an einen komplexen, einen handlungsmächtigen, einen handlungswilligen Einzelmenschen glaubt, der sich in Zeiten von hochdifferenzierter Spezialisierung, digitaler Reduktion, dem Verschanzen in kommunikativen Echokammern und sozialer Atomisierung behauptet?

So viel einfacher ist es umgekehrt, sich in unübersichtlichen Zeiten in simple Antworten zu flüchten. Sich ein Weltbild aus einspruchsresistenten Vorurteilen und anstrengungslosem Schubladendenken zusammenzuzimmern, in der jegliche Irritation sofort erstickt wird.

Anne Applebaums gut geschriebener Essay, den man sich in einem Magazin abgedruckt vorstellen kann, ist klug, gut und gut gemeint. Lohnender ist’s, zu ihren Büchern über den Gulag und den Holodomor zu greifen. (Alexander Kluy, ALBUM, 20.3.2021)