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Am 21. März ist Welttag der Poesie. Er soll im Informationszeitalte ran die Kraft und Macht der Sprache erinnern. Jüngstes Beispiel: Amanda Gorman mit "The Hill We Climb".

Foto: Reuters / Kevin Lamarque

Dass Menschen an vorderster Front stehen, wenn es um die Sache ihrer Gruppe geht, ist nicht neu. Dass sie andere von der Sache ihrer Gruppe mit ideologischem Furor fernhalten, statt sie auf ihre Seite zu ziehen, allerdings schon: Willkommen in der neuen Welt der Cancel-Culture!

Eines bloß "marginalen Phänomens", wie der Princeton-Politologe Jan-Werner Müller in seinem Text Die Mär von der illiberalen Linken schreibt. Der vielgescholtenen Identitätspolitik gehe es nur "um das effektive Einfordern von Grundrechten".

Der Schriftsteller Hermann Hesse schrieb 1919 noch unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs unter dem Pseudonym Emil Sinclair im Prolog von Demian: "Jeder Mensch aber ist nicht nur er selber, er ist auch der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder."

Nicht länger aber gilt der Mensch als "der einmalige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder". Der Mensch erscheint jetzt nur noch als Teil einer Punktwolke. Und durch diese Punktwolke sollte sich eine möglichst passende Regressionsgerade ziehen lassen.

Diskriminierungsgebot

Tatsächlich geht es den Proponenten und Proponentinnen der Cancel-Culture um nichts weniger als ein neues Grundrecht auf Achtung der Identität. Und ein solches kann nur als Diskriminierungsgebot gedacht werden.

Dem Diskriminierungsverbot in Artikel 2 der Menschenrechtserklärung ("Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen.") wäre folgender Satz hinzuzufügen: "Dieser Anspruch gilt nur insoweit, als nicht das Recht anderer auf Wahrung der Identität durch Unterscheidung beeinträchtigt wird." Dann, und nur dann, würden die Vertreter der Identitätspolitik nichts als ihre Grundrechte einfordern.

Dann, in der Tat, wäre es die bloße Inanspruchnahme eines Grundrechts auf Wahrung der Identität, dem literarischen Shooting-Star Marieke Lucas Rijneveld die Fähigkeit, nein, das Recht abzusprechen, Amanda Gormans weltweit akklamiertes Gedicht The Hill We Climb ins Holländische zu übersetzen. So wie es die schwarze Aktivistin und Mode-Influencerin Janice Deul in der Tageszeitung de Volkskrant getan hat.

Denn Rijneveld ist "weiß, nichtbinär, hat keine Erfahrung auf diesem Gebiet" und deswegen eine "vertane Chance". Hatte sich Gorman in ihrem Gedicht nicht selbst als "skinny black girl" beschrieben? Sollte es da dem niederländischen Verlag Meulenhoff nicht möglich sein, jemanden zu finden, der ein "spoken word artist" ist, jung, Frau und: "unapologetically black?"

Hang zum Kannibalismus

Die vermeintlich gemeinsame Sache der Diversität läuft auf das Gleiche hinaus wie die Internationale der Nationalisten: Zuerst erklären die vereinten Partikularisten dem Universalismus den Krieg. Am Ende bekriegen sie sich gegenseitig. Der Hang zum Kannibalismus liegt im Wesen aller partikularistischen Bewegungen.

Im Gegensatz zu Marxens unleugbarem Humanismus kann man der Cancel-Culture nicht einmal zubilligen, gut gemeint zu sein. Sie ist per se ein zivilisatorischer Rückschritt. Auf dem Spiel steht nichts weniger als "das Schicksal des universalistischen Denkens", so der Philosoph Omri Boehm in seiner Kant-Apologie Sie wollen ihn stürzen sehen in der Zeit vom 26. November 2020. "Nirgends wird das Elend der linken Identitätspolitik so deutlich wie in dieser Regression von Kants Aufklärung zu Heideggers Antihumanismus."

Richtig oder falsch

Das Tier ist amoralisch und determiniert. Der Mensch kann richtig oder falsch handeln. Die Besonderheit der menschlichen Würde liegt in dieser Freiheit, nicht in seiner Identität. Der nach Kant zu moralischem Handeln fähige Mensch darf und soll aus der Punktwolke ausbrechen.

Traduttore, traditore!, rief die Influencerin Janice Geul, und der drohende Verrat ward aufgedeckt. Übersetzer, Verräter! Freilich richtete sich Geuls Vorwurf des Verrats nicht gegen den Makel jeglicher Übersetzung, dem Original niemals Genüge tun zu können. Er richtete sich auch nicht gegen die Übersetzung, die es noch gar nicht gab. Ja nicht einmal gegen die Person Rijnevelds selbst, da der Cancel-Culture der Begriff der Person fremd ist. Geuls Vorwurf des Verrats richtete sich einzig und allein gegen Rijnevelds falsche Identität.

Doch rasch löste sich die Angelegenheit in Wohlgefallen auf. Rijneveld zeigte sich einsichtig und reumütig: "Ich verstehe die Leute, die sich beleidigt fühlen." Im August war Rijnevelds Debütroman Was man sät (Suhrkamp, 2019) mit dem renommierten International Booker Prize ausgezeichnet worden.

In der Zeit vom 25. Oktober 2020 hatte Rijneveld noch zu Protokoll gegeben: "Wenn du ein Buch schreibst, musst du deine Umgebung vergessen. Du darfst nicht darüber nachdenken, wen du damit verletzen könntest oder wer es nicht gut finden wird." So schnell kann einen mit 29 Jahren der Mut verlassen.

Literarische Hinrichtung

Ende gut, alles gut? Mea culpa, causa finita? Ein nicht unwichtiges Detail ist freilich bisher übersehen worden: die unglaubliche Infamie, die sich hinter der ganzen Geschichte verbirgt und die einen, sobald man sie erkennt, erst nach Luft ringen, dann einen Schrei ausstoßen lässt: Vielleicht noch kein anklagendes J’accuse! Zumindest aber ein Indignez-vous!, also ein Empört Euch!

Denn Marieke Lucas Rijneveld, der oder die sich derzeit sowohl als Frau als auch als Mann fühlt und von der oder/und dem wir deshalb, Rijneveld bevorzugt im Englischen das Pluralpersonalpronomen "they", im Plural als Marieke und Lucas sprechen wollen, Marieke und Lucas also wurden nicht nur von einem Schnellgericht der mangelnden Empathiefähigkeit beschuldigt, was diese ja umgehend eingestanden.

Nein, Marieke Lucas wurden von Deul anschließend gleich zu ihrer literarischen Hinrichtung geführt: Worüber, um alles in der Welt, soll Rijneveld denn schreiben, wenn 99,9 Prozent aller Menschen eine andere Identität haben, weil diese binär oder nicht weiß sind, und Marieke Lucas sich in andere Welten eingestandenermaßen nicht einfühlen können?! Geht es nach der Logik der Cancel-Culture, taugt Rijnevelds Literatur künftig bestenfalls als exotischer Reisebericht aus einer anderen Welt.

Ein einziges Minenfeld

Identitätspolitik ist ein einziges Minenfeld, übersät mit verstümmelten beruflichen Existenzen. Rijnevelds quasi versehentliche literarische Hinrichtung ist die logische Folge einer Axiomatik, welche die kollektive Identität über das unteilbare Individuum stellt. Deul und all den anderen Aktivisten und Aktivistinnen soll hier gar keine böse Absicht vorgeworfen werden, sehr wohl aber, eine verheerende Logik in Gang gesetzt zu haben!

Rijnevelds reumütiges Eingeständnis erinnert an die Selbstbezichtigungen der Moskauer Prozesse der 1930er-Jahre, wie sie Arthur Koestler in seinem Stalinismus-Roman Sonnenfinsternis geschildert hat: "Schließlich bekenne ich mich schuldig, den Begriff des Menschen über den der Menschheit gestellt zu haben," sagt der gefallene Volkskommissar Rubaschow.

Im Sinne der Identitätspolitik ist Rijneveld schuldig, den Begriff des Menschen – oder vielleicht doch nur die eigenen literarischen Ambitionen – über den Begriff der Gruppe gestellt zu haben.

"... ja, du fühlst es", schreibt Marieke Lucas Rejneveld.
Foto: EPA / Jeroen Jumelet

Rijneveld hat erfreulicherweise die Stimme wieder gefunden und mit dem Gedicht Alles bewohnbar geantwortet, welches zeitgleich in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, England und Deutschland veröffentlicht wurde. Was antwortet Marieke Lucas Rijneveld?

es geht darum, dich
hineinzuversetzen, das Kummermeer
hinter den Augen
des andern zu sehen, die wuchernde
Wut bis dorthinaus,
du willst sagen, dass du vielleicht
nicht alles verstehst, dass du
sicher nie ganz den richtigen Nerv
triffst, aber dass du es sehr wohl
fühlst, ja, du fühlst es, mag der
Unterschied auch zollbreit sein.

(aus Marieke Lucas Rijneveld, "Alles bewoonbaar", Übersetzung ins Deutsche von Ruth Löbner)

Rijneveld sagt das einzig Richtige, in der inklusiven zweiten Person Singular, und meint damit uns alle: dass du vielleicht nicht alles verstehst, aber dass du es sehr wohl fühlst, mag der Unterschied auch bleiben.

Aber das ist alles, was wir erhoffen können! Kein Mensch kann einem anderen Menschen auch nur ein Jota näher kommen. Der Mensch ist die "differentia specifica" unter Menschen. Empathie ist eine kosmische Verbindung, eine Frage der Menschlichkeit, keine Frage der Identität.

Weiß, binär und tot

Der Philosoph John Rawls, weiß, binär und mittlerweile tot, war nicht der Erste, der versuchte, eine gerechte Welt zu denken. Und er wird nicht der Letzte sein. Sein Mittel der Wahl war der "Schleier des Nichtwissens". Wie die Causa Rijneveld beweist, taugt die Wirklichkeit nicht zur Gerechtigkeit. Und so bediente sich Rawls, wie so viele Kontraktualisten über so viele Jahrhunderte vor ihm, eines Kniffs: der Fiktion eines ursprünglichen Vertrags, auch "Gesellschaftsvertrag" genannt.

Schließen wir die Augen und stellen wir uns vor, was sich Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und all die anderen Vertragstheoretiker ebenfalls vorgestellt haben: einen Urzustand nämlich, in dem natürlich freie und gleiche Menschen zusammenkommen, um die Grundregeln der künftigen Gesellschaft zu verhandeln.

Nun, dachte Rawls und elaborierte diesen Gedanken in seiner Theorie der Gerechtigkeit von 1971, sollte es um der Gerechtigkeit willen nicht ein unschätzbarer Vorteil sein, würden die Versammelten keine Ahnung haben, welcher Platz in der Gesellschaft ihnen dereinst zufiele? "Keiner kennt seine Stellung in der Gesellschaft und seine natürlichen Gaben, daher kann niemand Grundsätze auf seinen Vorteil zuschneiden." So die Theorie. Und sie ist bestechend.

Amanda Gormans mitreißendes Gedicht sollte nach dem Willen Joe Bidens dazu beitragen, die zerrissene amerikanische Nation zu heilen, wieder zu vereinen und dem pandemischen Rassismus den Kampf anzusagen. Genau so wurde The Hill We Climb verstanden. In Amerika. Weltweit.

Niemand wird auch nur einen einzigen anständigen nichtschwarzen Menschen, binär oder nichtbinär, davon abhalten, diesem verfluchten Rassismus ein für alle Mal den Garaus zu machen, den schwarzen Brüdern und Schwestern zur Seite zu stehen, mit ihnen gemeinsam den Hügel zu erklimmen:

For there is always light,
if only we’re brave enough to see it
If only we’re brave enough to be it

(Aus Amanda Gormans Gedicht "The Hill We Climb", das am 30. März bei Hoffmann und Campe in einer zweisprachigen Ausgabe erscheinen wird. Derzeit arbeiten drei Übersetzerinnen an der Übertragung ins Deutsche. Siehe dazu auch den Text von Ronald Pohl.)

(Richard Müller, ALBUM, 21.3.2021)