Man kennt einander, und doch hat es gedauert: Der Rektor der Med-Uni Wien, Markus Müller (links), ist der neue und zugleich alte Vorsitzende des Obersten Sanitätsrats, den Gesundheitsminister Rudolf Anschober (rechts) am Freitag bestellt hat.

Foto: APA / Helmut Fohringer

Wien – Habemus OSR. Nach rund eineinhalb Jahren, in denen es keinen Obersten Sanitätsrat (OSR) gab, weil er politisch nicht ernannt worden war, präsentierte Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) am Freitagvormittag nun doch dieses gesetzlich vorgeschriebene Beratungsgremium – mit dem neuen Vorsitzenden, der der alte ist: Markus Müller, der Rektor der Medizin-Uni Wien, war nämlich bereits in der Ende 2019 abgelaufenen dreijährigen Funktionsperiode des OSR dessen Vorsitzender und wurde von den anderen Mitgliedern einstimmig gewählt.

Auf die Frage, warum die Ernennung denn so lange gedauert habe – das Bundesgesetz für den Obersten Sanitätsrat sieht auch eine Wiederbestellung des bestehenden OSR vor, nicht nur eine Neubestellung –, antwortete Anschober am Freitag: Das sei "eine sehr berechtigte Frage, die er "fast erwartet" habe, aber es sei "natürlich so", dass er im vergangenen Jahr, das ganz im Zeichen der Corona-Pandemie stand, sehr stark auf drei andere Beraterstäbe gesetzt habe: den Covid-19-Beraterstab, dem auch Müller bis Jahresende angehörte, den Beraterstab für rechtliche Fragen und jenen für psychosoziale Folgen der Pandemie. "Seit einigen Monaten" aber sei sein Ressort mit der "Vorbereitung des OSR", der "breit aufgestellt" sein und "über Covid hinausgehen" solle, befasst gewesen: "Deswegen die schrittweise Vorgangsweise."

Anschober stellt den OSR vor.
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Es war eine ministerielle "Pflichtverletzung"

Apropos erwartbare Fragen zur politischen Leerstelle OSR: Verfassungsjurist Heinz Mayer hatte bereits im November im STANDARD unter Verweis auf die gesetzliche Verpflichtung zur Errichtung eines Obersten Sanitätsrats von einem "rechtswidrigen Zustand" als Folge einer ministeriellen "Pflichtverletzung" gesprochen und eine "unverzügliche" Bestellung gefordert.

Eine Wissenschaftergruppe vom Zentrum für Public Health der Med-Uni Wien – Hanns Moshammer, Hans-Peter Hutter und Michael Kundi – hatten damals (DER STANDARD berichtete) in einem Brief an Anschober appelliert, den OSR "so rasch wie möglich wieder zu berufen". Unabhängiger Sachverstand aus dem Bereich der öffentlichen Gesundheit sei "eine notwendige Bedingung evidenzbasierter Gesundheitspolitik".

Damals wurde als Begründung für den fehlenden OSR in Anschobers Ressort auf die Pandemie verwiesen: "Die Neubestellung hat sich aufgrund der Coronavirus-Krise verzögert." Mit Beginn des neuen Jahres sei der Start des neuen OSR geplant. Vor einer Woche hieß es auf STANDARD-Nachfrage zum noch immer verwaisten OSR, er werde "in Kürze" präsentiert, man habe die Bestellung von Chief Medical Officer Katharina Reich abwarten wollen. Reich ist seit Anfang Dezember im Amt.

Eine ehemalige Vorgängerin von Anschober, die heutige SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, in deren Amtszeit als Gesundheitsministerin sich der letzte OSR konstituiert hat, nämlich im Juni 2017, hatte bereits im April vergangenen Jahres auf eine Bestellung dieses Gremiums, das gesundheitspolitische Empfehlungen abgeben und auch Gutachten erstellen kann, gedrängt. Die Neos brachten gegen Jahresende einen entsprechenden parlamentarischen Entschließungsantrag ein.

Anschobers "wichtigstes Beratergremium"

Nun aber gibt es wieder einen Sanitätsrat, und Anschober nannte den OSR, der am Freitag seine konstituierende Sitzung absolvierte, "mein wichtigstes Beratergremium", das von "eminenter Bedeutung für die Ausrichtung der Gesundheitspolitik" sei. Bei der Zusammensetzung des OSR mit 35 "hochkompetenten Persönlichkeiten aus dem Gesundheitsbereich" (Anschober hob Public Health und Pflege als ihm besonders wichtige Bereiche hervor) seien einige dabei, die teilweise bereits OSR-Mitglieder waren, andere wiederum kamen neu in die Kommission.

Der Vorsitzende Müller zum Beispiel ist seit mehreren Perioden dabei, auch seine Stellvertreterin Christiane Druml, die Vorsitzende der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt, kennt die Kommission bereits seit 2008 aus eigener Anschauung. Sie ist – neben Michael Grimm, dem Leiter der Uniklinik für Herzchirurgie an der Med-Uni Innsbruck – eine der zwei neu gewählten Vizevorsitzenden des OSR. Neben Müller und Druml nannte Anschober am Vormittag den Epidemiologen Gerald Gartlehner von der Donau-Uni Krems und die Virologin Elisabeth Puchhammer-Stöckl (Med-Uni Wien) als Mitglieder. Die gesamte Liste ist auf der Homepage des Sozialministeriums einsehbar. Auffällig: Der Vertreter oder die Vertreterin der AGES ist mit N.N. (nomen nominandum) angeführt, ist also erst noch konkret zu benennen.

In der Pandemie ohne für Pandemie gedachtes Forum

Vizevorsitzende Druml war übrigens auch eine jener, die die lange Nichtbestellung des OSR im vergangenen Jahr massiv kritisiert hatten. In einem Gastkommentar im STANDARD drückte Druml Anfang September ihr Bedauern über das Endes des OSR nach eineinhalb Jahrhunderten seines Wirkens aus. Wie könne es sein, fragte auch sie, "dass ein – gerade für Zeiten einer Pandemie gedachtes und bitter notwendiges – Gremium wie der Oberste Sanitätsrat nicht mehr einberufen wurde".

Sinnigerweise gab es also den 1870 auch als Reaktion auf verheerende Epidemien wie die Pocken ins Leben gerufenen Sanitätsrat im Jahr seines 150-jährigen Bestehens nicht mehr.

CMO Reich sagte, dass im OSR Themen bearbeitet werden, die Österreichs Gesundheitswesen auch nach der Pandemie bleiben würden, etwa E-Health und Digitalisierung. Für den "interprofessionellen Zugang" stehe auch die Einbindung der Patientenanwaltschaft, der pflegenden Angehörigen oder der Plattform Patientensicherheit.

Es gibt zum Glück auch andere Themen als Corona

Wieder-OSR-Vorsitzender Müller sagte, Anschober sei bereits der siebente Minister, den er beraten dürfe. Nicht nur im OSR, sondern bis Jahresende auch als Mitglied im Corona-Beraterstab des Gesundheitsministers. Zur künftigen Arbeit des OSR sagte Müller, er sei "glücklich, dass wir den Fokus auch wieder auf andere Aspekte legen können". Als anstehende Themen nannte er E-Health und Telemedizin, denen man "besondere Aufmerksamkeit" widmen wolle. Auch Kinder-, Frauen- und Familiengesundheit, die Zusammenarbeit der verschiedenen Medizinberufe (Healthcare-Workers) und die allgemeinmedizinische Versorgung stehen auf der OSR-Agenda.

Demnächst sollen die unterschiedlichen Themen priorisiert werden, natürlich werde Covid auch weiter eine Rolle spielen, sagte Müller, dafür wird im OSR ein eigener Fachausschuss etabliert. Als "zusätzliche Verstärkung" für diese medizinisch-wissenschaftliche Kommission beim Gesundheitsministerium wird außerdem ein neuer Fachausschuss für Sonderfächer installiert.

Neos wollen Einbindung der Oppositionsvorschläge

Neos-Gesundheitssprecher Gerald Loacker reagierte enttäuscht darüber, dass Anschober erst nach "medialem und politischem Druck aus der Opposition" und "mit unglaublichen eineinhalb Jahren Verspätung seinen gesetzlichen Aufgaben nachkommt". Ein Jahr ohne Obersten Sanitätsrat sei "untragbar". Loacker fordert, dass dem OSR ab jetzt "auch die Vorschläge der Opposition vorgelegt werden". Die Neos hätten nicht nur im Zuge der Pandemie "immer wieder konstruktive Vorschläge auf den Tisch gelegt und dem Gesundheitsminister zugetragen. Außer eines E-Mails, dass unser E-Mail dankend erhalten wurde, ist allerdings jedes Mal nichts passiert", schrieb der Neos-Abgeordnete in einer Aussendung: "Das ist kein Schulterschluss, das ist keine Wertschätzung des Parlaments und das ist kein seriöser Umgang mit einer Pandemie. Der oberste Sanitätsrat hat die Aufgabe, nicht nur die Ideen der Regierung zu diskutieren, sondern als unpolitisches Gremium im Sinne der Gesundheit der Bevölkerung zu agieren."

SPÖ pocht auf Wirksamkeitsbewertung der Corona-Maßnahmen

Für SPÖ-Gesundheitssprecher Philip Kucher war es zwar "völlig unverständlich, dass Anschober in Zeiten einer Jahrhundert-Pandemie auf den OSR verzichtet". Mit der jetzigen Einsetzung des OSR werde ein rechtswidriger Zustand "reichlich spät" behoben: "Aber gut, dass der Minister heute seiner Verpflichtung endlich nachkommt", sagte Kucher. Gerade jetzt brauche es "jeden zusätzlichen unabhängigen Sachverstand aus dem Bereich der öffentlichen Gesundheit, etwa zur Wirksamkeitsbewertung der Lockdownmaßnahmen oder der Begleitung und Evaluierung des heiklen Öffnungsprozesses". (Lisa Nimmervoll, 19.3.2021)

Update um 15:30 Uhr: Reaktionen von SPÖ und Neos wurden ergänzt

Update um 17:50 Uhr: Link zur Liste der OSR-Mitglieder eingefügt