Politik wird wieder einmal auf der Straße gemacht. Demos, Gegendemos, die Rechten, die Linken, die Faschisten, die Antifaschisten, die Bösen, die Guten, die Mitläufer, die Frustrierten, die Enttäuschten. Alles gerät aus der Balance, die ohnehin schon seit einiger Zeit eine höchst labile ist.

Ich selbst bin letzte Woche auf Twitter zwischen die Demo-Fronten geraten. Nicht so schlimm wie die Straße, aber fast. Ich fand mich aufgrund eines Artikels, den ich über die Samstag-Demo im Prater geschrieben hatte, mit Natascha Strobl, die eine – oder die – Führungsfigur der Antifa ist, in einer heftigen verbalen Auseinandersetzung wieder. Wir konnten aber, worüber wir uns beide freuten, in einem ausführlichen persönlichen Gespräch die Wogen zwischen uns nach ein paar Tagen wieder glätten.

Damit war aber das eigentliche Problem weder für sie, noch für mich aus der Welt geschafft. Bei ihr war es eine physische oder zumindest gefühlt physische Bedrohung von rechten Gruppen, die sie dazu brachte, ihren Twitter-Account mit sage und schreibe 120.000 Followern zu löschen.

Bei mir waren es auch die Rechten, die sich einen (!) Halbsatz aus meinem Artikel herausgepickt haben, um die Antifa im Allgemeinen und Natascha Strobl im Besonderen anzupatzen. Steigbügelhalter der Rechten zu sein ist an sich schon ein schwer zu ertragendes Problem, für einen Juden aber ein Albtraum. Wenn ich dem Ganzen etwas Positives abgewinnen kann, dann höchstens, dass es eine gerade noch rechtzeitige Warnung für mich war, jedes Wort, das ich auf Twitter schreibe, genau zu überlegen. Wem schadet es? Wem nützt es?

Feine Nuancen zählen nicht mehr

Es gibt aber noch etwas, das mir durch den Kopf geht. Der Streit mit Natascha Strobl wird als ein Streit unter Linken dargestellt. Bin ich ein Linker? In meinem Eigenverständnis nicht.

Ich würde sagen, ich bin eine oder zwei Handbreit links von der Mitte. Ich habe mein Leben lang die Sozialdemokratie gewählt – bis aufs letzte Mal die Grünen, die dafür bei der Wien-Wahl die Rechnung zu bezahlen hatten, ich wählte Pink – ich habe während meiner Werbezeit auch zwei Wahlkampagnen für die SPÖ gemacht. Aber das macht jemanden, der Mitte-links ist, nicht zum Linken. So wie es jemanden, der Mitte-rechts ist, nicht zum Rechten macht.

Aber diese feinen Nuancen zählen heute nicht mehr. Wir beklagen zwar, dass die Gesellschaft immer mehr auseinanderdriftet, immer mehr in Lager zerfällt, aber wir tun auch alles, um das zu beschleunigen. Entweder Du bist mein Freund oder mein Feind. Entweder Du bist links oder rechts. Entweder Du bist von "dieser Partie" oder von "jener Partie". Man kann hier auch ruhig "Partei" einfügen. Alles, nur nicht die Mitte!

Die Mitte, das ist der Ort, wo sich die Unentschlossenen, die Nichtbekenner, die Wertelosen, die Rückgratlosen, die Weicheier befinden. Jemand, der in der Mitte ist, definiert sich darüber, was er nicht ist. Immer weniger Menschen leben an diesem Ort. Sie sind an die Ränder oder zumindest in die Richtung der Ränder ausgezogen. Dort, wo es keine Kompromisse gibt, dort, wo es Solidarität nur mit ihresgleichen gibt. Da es an diesem Ort immer weniger Menschen gibt, interessiert sich die Politik auch immer weniger dafür. Die Mitte ist zum gesellschaftlichen und politischen Brachland geworden.

Wir müssen diese Mitte wiederaufbauen. Wir brauchen ein Programm, das diesen Ort wieder attraktiv und breiter macht. Dort, wo die Menschen von etwas links bis etwas rechts harmonisch und zwanglos miteinander und nicht gegeneinander leben können. Ein Platz mit Werten, die es gilt zu verteidigen. Eine wehrhafte Mitte. (Harry Bergmann, 19.3.2021)