Als am Dienstagnachmittag um 15 Uhr mitteleuropäischer Zeit die Laureaten des diesjährigen Pritzker-Preises verlautbart wurden, ging eine so konsensuale Postingeuphorie über den digitalen Erdball: "Na endlich!", "Vollkommen verdient!", "War aber auch höchste Zeit!". Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, die in Paris das Architekturbüro Lacaton & Vassal betreiben, sind in der Baukultur längst keine Unbekannten mehr, auch in Wien haben sie mit dem Restaurant Corbaci im Museumsquartier vor 20 Jahren bereits ihre Handschrift hinterlassen, ihr Entwurfsansatz zum Bauen und Wohnen ist aber nach wie vor radikal einzigartig.

Begonnen hat alles, wie so oft im Leben, mit dem Zufall und der herausfordernden Situation, dass ihre ersten Bauherren, eine vierköpfige Familie wohlgemerkt, zu wenig Geld auf dem Konto hatten, um sich ein Einfamilienhaus in der gewünschten Größe zu leisten: 55.000 Euro. Anstatt die Auftraggeber wieder wegzuschicken, entwickelten Lacaton & Vassal ein ausgeklügeltes System, um mit wenig Geld möglichst viel Wohnraum zu produzieren.

53 Units, Low-Rise Apartments
Foto: Philippe Ruault

Als Vorbild dafür dienten die in jedem Land herumstehenden Gewächshäuser aus Stahl, Stegplatten und billigsten Paneelen aus gewelltem Polycarbonat, die in jedem Baumarkt zu finden sind. Das Resultat der ungewöhnlichen Material- und Bauphysik-Recherche war eine Art Glashaus, in das ein billiges, einfach konstruiertes Holzhaus mit stattlichen 185 Quadratmetern Wohnfläche hineingestellt wurde. Die 1993 fertiggestellte Maison Latapie in Floirac, Nähe Bordeaux, sollte kein Einzelfall bleiben.

"Viele unserer damaligen Bauherren waren finanziell eingeschränkt", erinnert sich Anne Lacaton. "Für klassische Projekte reichte das Geld nicht. Wir standen also vor der Wahl: Baut man das Projekt nicht? Baut man vielleicht nur eine abgespeckte Variante? Oder aber macht man das Beste daraus und definiert den Wohnbau völlig neu? Ich bin froh über unsere Entscheidung. Man denkt aus diesem Blickwinkel einfach anders, irgendwie kreativer. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass wir das alles nicht hätten machen können, wenn mehr Geld da gewesen wäre."

53 Units, Low-Rise Apartments
Foto: Philippe Ruault

König Brutalismus

In den Folgejahren entstanden zahlreiche Einfamilienhäuser und kleinere Wohnhausanlagen, die einem bis heute bestehenden Formen- und Materialkanon folgen: nackter Sichtbeton, verzinkter Stahl, Glastüren, Polycarbonat, Schiffssperrholz, Vorhänge aus hitzeabweisender Thermofolie, Estrichboden und aufputzgeführte Heizungs- und Elektroleitungen. Nach Luxusfliesen, edlen Parkettböden und technisch raffinierten Architekturdetails sucht man vergeblich. Es regiert Brutalismus.

"Wir arbeiten mit vorgefertigten Elementen oder mit ganz klassischen, aber günstigen Baustoffen", erzählt die Architektin. "In der Regel werden die Wohnungen unverputzt und unverspachtelt übergeben. Manchen gefallen die Sichtbetonoberflächen gut, und sie belassen sie. Andere streichen die Wände und Decken oder verkleiden sie mit Gipskarton. Auf diese Weise können wir viel Geld einsparen."

FRAC Nord-pas de Calais
Foto: Philippe Ruault

Genug Geld beispielsweise, um damit Bonuskubaturen zu errichten: Loggien, Balkone, Wintergärten, verglaste und mit Kunststoff eingehauste Räume, die im Frühjahr, Sommer und Herbst als verlängertes Wohnzimmer verwendet werden können. In der kalten Jahreszeit hingegen dienen sie als wertvoller Wärmepuffer beziehungsweise zwei, drei Meter dicke, durchsichtige Wärmedämmung. "In den warmen Monaten dehnt sich das Wohnen aus, im Winter lebt man halt kompakter und zurückgezogener", sagt Lacaton. "Auch früher hat man im Winter oft auf kleinerer Fläche gelebt, weil die Beheizung der großen Räume entweder nicht finanzierbar oder technisch gar nicht machbar war."

École Nationale Supérieure d'Architecture de Nantes
Foto: Philippe Ruault

In den Jahren sind auf diese Weise im geförderten Wohnbau ungewöhnlich große Wohnungen für die untere Mittelschicht entstanden. Während eine durchschnittliche Familienwohnung in Frankreich 75 bis 85 Quadratmeter misst, schaffen Lacaton & Vassal 120 bis 150 Quadratmeter. "Für den Bauträger ist nur eines wichtig: Eine durchschnittliche Sozialwohnung kostet ihn in der Errichtung rund 120.000 Euro netto. Egal ob er ein klassisches Wohnhaus errichtet oder sich entschließt, mit uns zu bauen. Das sind unsere Spielbedingungen."

Studentenhaus in Paris (2013)
Foto: Philippe Ruault

Neben dem Neubau und einigen beeindruckenden Schulen, Museen und Theatern haben sich Lacaton & Vassal zuletzt vor allem auf die Sanierung von alten, ungeliebten Wohntürmen und Wohnblöcken aus den Sechziger- und Siebzigerjahren spezialisiert. Ihr Motto: Man entferne die alten Fenster, breche die Betonbrüstung ab, baue raumhohe Terrassentüren ein und stelle vor das Haus ein Stahlregal, das man anschließend mit Glas oder Polycarbonat verkleidet. So geschehen etwa in Paris, Bordeaux und Saint-Nazaire. Das preisgekrönte Projekt in Bordeaux, eine revitalisierte Wohnhausanlage mit 530 Wohneinheiten, war zuletzt in der Ausstellung Critical Care. Architec ture and urbanism for a broken planet im Architekturzentrum Wien zu sehen.

Sanierung eines Wohnblocks in Bordeaux (2017)
Foto: Philippe Ruault

"Unsere geringste Sorge"

Die Denker und Entwerferinnen dahinter: Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal.
Foto: Philippe Ruault

"Die Arbeit von Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal spiegelt einen demokratischen Geist wider", heißt es im Protokoll der diesjährigen Pritzker-Jury. "Sie empfinden eine Zugehörigkeit und Verantwortungspflicht gegenüber einem größeren Ganzen und haben den Begriff der Nachhaltigkeit von Anfang an konsequent erweitert – mit dem Resultat, ein reales Gleichgewicht zwischen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Überlegungen geschaffen zu haben."

Foto: Philippe Ruault

Nicht zuletzt ist die nun gewürdigte Architektur ein wertvolles Gegenmodell zu der zur Unsitte gewordenen Smart-Wohnkultur in Österreich. Da wie dort zwingen die gestiegenen Bau- und Grundstückskosten zu erfinderischer Not. Während in Frankreich dem Lebensraum Priorität eingeräumt wird, halten wir unbeirrt an zynisch gewordenen Bauvorschriften und Förderrichtlinien fest und schrumpfen unsere Wohnungen auf Flohgröße. Möge der Pritzker-Preis hierzu lande einen längst überfälligen Denk- und Rekapitulationsprozess in Gang bringen.

Ob die beiden schon wissen, was sie mit dem Preisgeld in der Höhe von 100.000 US-Dollar machen wollen? "Eine Besprechung nach der anderen", schreibt Anne Lacaton kurz und knapp per E-Mail zurück. "Keine Zeit, viel zu weit weg, unsere geringste Sorge."