Bild nicht mehr verfügbar.

Zauber des Kontexts: Amanda Gorman bei Bidens Angelobung am 20. Jänner am Kapitol in Washington.

Foto: Lamarque/Reuters

Amanda Gormans Gedicht "The Hill We Climb", vorgetragen am 20. Jänner zur Inauguration von US-Präsident Joe Biden, umfasst 723 Wörter. Gormans Text im Spoken-Word-Stil, wohldosiert pathetisch, steckt voller Anspielungen: auf die Bibel, ein Musical, auf einen Zusatzakt der US-Verfassung. Verrätselt wird man Gormans Appell kaum nennen wollen. Er enthält lauter sachdienliche Hinweise auf eine bessere, weil solidarischere Welt. Eine, die Afroamerikanerinnen wie Gorman mit entsprechenden Perspektiven versieht. Etwa der jenigen, eines Tages in das Weiße Haus einziehen zu können.

Die Frage, ob Gormans Gedicht "groß" sei, müssen sich Übersetzerinnen vorderhand nicht stellen. Die Wienerin Karin Fleischanderl, die seit vielen Jahren aus dem Italienischen überträgt, erklärt die Bedeutung von Gormans Text mit den Umständen. Dabei stelle "The Hill We Climb" kein hochkomplexes Sprachkunstwerk dar: "Angesichts der Tatsache, dass Alexandriner und Hexameter erfolgreich übersetzt werden, außerdem Bob Dylan und Donald Duck, dürfte ,The Hill We Climb' kein unüberwindbares Hindernis darstellen."

Unwiederholbar sei allein der Kontext: "Eine junge schwarze Frau liest im Zentrum der Macht, vor dem Kapitol, ein Gedicht vor!" Dieser Augenblick menschengemachter Heiligkeit würde von jeder Übersetzung profanisiert. Ob profan oder nicht, der Übersetzungsprozess ist gehörig ins Stocken geraten. Experten wurden von ihrer Aufgabe entbunden. "Aktivistinnen" bestritten das Recht der bilingualen Fachkräfte, im Namen einer jungen Afroamerikanerin zu sprechen. Ein älterer Weißer wie der Katalane Victor Obiols wurde identitätspolitisch aussortiert. Dabei hatte Gorman, die 22-jährige Harvard-Studentin, doch ursprünglich ein Hohelied auf die Inklusion angestimmt.

Wer aber darf Gorman übersetzen, ohne bevormundend zu sein? Nathalie Rouanet-Herlt, Sprecherin der heimischen "IG Übersetzerinnen Übersetzer", weist die Frage als falsch gestellt zurück: "Sie lautet nicht, wer darf, sondern wer kann." Und: "Abgesehen von einer fundierten Sprachkompetenz in beiden Sprachen soll sich die Übersetzerin in eine fremde Welt, eine fremde Perspektive einfühlen können." Weil bestimmte Begriffe je nach Alter, Kontext, Hautfarbe, sexueller Orientierung eine andere Konnotation annehmen können. Doch mit dem pflichtschuldigen Hinweis auf Verständnisprobleme scheint in der aktuellen Debatte kein Blumentopf gewonnen.

Bitte um Versachlichung

Rouanet-Herlt drängt auf Versachlichung: "Der Einwand, dass eine nichtbinäre Europäerin wie Marieke Lucas Rijneveld oder ein alter Katalane nicht befugt sein sollen, eine zierliche Afroamerikanerin in ihre Sprache zu übersetzen, ist genau so sinnlos, wie wenn man Leserinnen die Fähigkeit zur Empathie abspricht."

Sie begrüßt ausdrücklich die Fähigkeit von Leserinnen und Übersetzerinnen, in die Haut fiktiver und nonfiktiver Figuren zu schlüpfen: "Aus diesem Grund lesen und übersetzen wir doch." Muss man ein junger Homosexueller aus dem Arbeitermilieu sein, um Édouard Louis zu übersetzen? Muss man Vergewaltigung oder Inzest erlitten haben, um Virginie Despentes oder Christine Angot zu übersetzen? Unsinn. "Herman Melville war kein Wal." (Jo Lendle)

Die Debatte um die Gorman-Übersetzungen bilde das Nebengeräusch eines Marketingcoups. Rouanet-Herlt: "Ich nenne das die Bling-Bling-Seite des Literaturbetriebs. Es musste um des kommerziellen Gewinns wegen schnell gehandelt werden." Rijneveld, Booker-Prize-Trägerin von 2020, hätte "vermutlich ein gutes Gedicht geschrieben. Sie kann das. Und wird eine junge holländische Schwarze das besser machen, weil sie schwarz ist? Empfinden alle jungen schwarzen Frauen gleich, weil sie schwarz sind?"

Vorschlag zur Güte

Der Vorschlag zur Güte: "Warum nicht mehrere Fassungen des Gedichts übersetzen lassen? Oder Übersetzungsteams bilden?"

Oder geht es letztlich gar nicht um ein gemeinsames Verständnis? Elisabeth Edl fertigt seit Jahren u.a. funkelnde Neuübersetzungen von Flaubert und Stendhal an. Ihr Kommentar: "In dieser Diskussion geht es überhaupt nicht um das literarische Übersetzen, es geht um die Freiheit der Kunst. Wir hatten in Deutschland und Österreich schon einmal eine Zeit, in der für die Ausübung von Literatur, Malerei, Musik ein Nachweis über Herkunft, Abstammung, Hautfarbe verlangt wurde. Will jemand ernsthaft darüber diskutieren, ob man damit wieder anfangen soll?" Mit Personen, die so etwas verlangen, so Edl, könne man nicht reden. "Man kann nur über sie reden und sich fragen, was man tun soll, damit nicht wieder der Ahnenpass über die Kunst entscheidet." Und: "Es gibt keinen guten Rassismus." (Ronald Pohl, 20.3.2021)