Daniel Kehlmann trug sein Fazit Anfang Februar als erste "Stuttgarter Zukunftsrede" vor.

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"Es war ein schöner Tag im Sommer", begann Kehlmann Anfang 2020 sein Experiment. Die KI setzte fort: "Die Sonne schien strahlend auf das grüne Gras und die Blumen im Garten, aber da waren keine Vögel, die sangen, oder Insekten, die summten."

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Im Jahr 2016 stellte der Algorithmus Alpha Go die Welt des alten Brettspiels Go auf den Kopf. Damals trat die künstliche Intelligenz (KI) gegen den Profi Sedol an und versetzte das Publikum in Schock: Alpha Go legte einen Zug, den kein Mensch gelegt hätte, weil er allen bekannten Strategien widersprach. Nach 50 Zügen zeigte sich den Beobachtern aber die Sinnfälligkeit des frühen Zugs auf der fünften Linie, sie waren baff. Inzwischen spielen auch Menschen die fünfte Linie früh.

In der Kunst fehlen derart überzeugende Kostproben künstlicher Gehirne bisher. Zwar gibt es von Algorithmen gemalte Bilder und gereimte Gedichte, aber der Funke wollte noch nicht so recht auf das Publikum überspringen. Liegt das daran, dass es einfacher ist, logische Probleme zu lösen, als große Kunst zu schaffen? Oder verteidigen wir jene bloß trotzig als ultimativen Ausdruck menschlichen Geistes?

Grün ist das digitale Gras

Hier setzen zwei aktuelle Bücher an. Im ersten fliegt der Autor Daniel Kehlmann Anfang 2020 nach Palo Alto in Kalifornien. "Bestürzend" jung findet er die Mitarbeiter der Tech-Firmen und irritierend gut gelaunt angesichts von "Druck, Qual und Anstrengung", die Welt zu beherrschen. Kehlmann ist sich Problemen wie Arbeitsplatzvernichtung bewusst, aber schon lange auch begeistert vom Silicon Valley. Und so ist er ideal geeignet, auf Einladung von Open Austria einen Algorithmus namens CTRL für natürliche Sprache auf die Probe zu stellen: Kann CTRL auch Literatur schreiben?

"Es war ein schöner Tag im Sommer", beginnt Kehlmann auf Englisch sein Experiment, woraufhin CTRL fortsetzt: "Die Sonne schien strahlend auf das grüne Gras und die Blumen im Garten, aber da waren keine Vögel, die sangen, oder Insekten, die summten." Kehlmann gefällt der unheimliche Ton, er setzt also munter die Geschichte fort: Sein Held ist mit ihrem Freund Otto unterwegs, dem CTRL prompt andichtet, er sei Elektriker. Mit der vom Autor nun erfundenen Angst Ottos vor einem Stromschlag, fängt CTRL indes wenig an und wechselt das Thema. Ein paar Zeilen später stürzt CTRL ab. Kehlmann ist angetan, erkennt aber die Grenzen der Technik.

Literatur mit "Metaworten"

CTRL ist ein prädikativer Algorithmus, er trifft seine Entscheidungen aufgrund von Wahrscheinlichkeitsabschätzungen und reagiert auf Reize, indem er aus einem zur Verfügung stehenden Corpus die wahrscheinlichste Reaktion darauf wählt. Seine Datenbank umfasst im Internet zugängliche Bücher und Foren, wurde also von Menschen befüllt. "Zweitverwerter", nennt Kehlmann ihn. CTRL muss nicht verstehen, was ein Wort bedeutet, doch er weiß, dass Worte in Kombination mit manchen Worten öfter vorkommen als mit anderen. Diese statistischen Informationen heißen "Metawort": Nach "Ich" kommt etwa oft ein "bin" oder "gehe". Das grammatisch falsche "gehen" ist ein anderer Eintrag im Meta-Wörterbuch, also als Folgewort von "Ich" unwahrscheinlich. So hantelt sich die KI voran.

Damit sind wir beim Problem, das Kehlmann erkennt: CTRL reagiert kurzfristig, ihm fehlen Vorausplanung und Konsistenz über längere Strecken. Denn CTRL sucht nicht nach Plots, sondern passenden Sprachbausteinen.

Ein Jahr lang hatte der Erfolgsautor Zugang zu CTRL. Dafür sind Happen der Zusammenarbeit auf den 64 groß bedruckten Seiten rar gesät. Geschichte ist letztlich keine herausgekommen, mit Poesie funktionierte es etwas besser, wobei moderne Lyrik häufig mit offenen Strukturen arbeitet, was der KI entgegenkam. Seinen Beruf sieht Kehlmann insofern nicht bedroht. Wiewohl er einräumt, "es gab Momente, die ich, wüsste ich es nicht besser, als Zeichen echter Inspiration deuten würde".

KI-Musik für Spotify?

Eine Einschätzung, die auch Marcus de Sautoy teilt. Der Creativity-Code heißt die Beschäftigung des Mathematikers mit KI. Was Kehlmann erspürt, das fasst der Professor aus Oxford in härtere Währung und zeichnet spannend Entwicklungen aus Jahrzehnten nach: verortet Gemälde von Picasso und van Gogh in Koordinatenkreuzen, wo Algorithmen sie studieren; verrät, wie Empfehlungen auf Netflix zustande kommen; oder sieht Musik stärker als andere Künste von KI bedroht, weil sie der Mathematik am nächsten sei. Ähnlich wie CTRL kann etwa der Continuator basierend auf Wahrscheinlichkeit das Spiel von Musikern weiterführen. Sein Erfinder ist inzwischen bei Spotify: Wird der Streaminganbieter KI bald Songs erstellen lassen, für die er keine Tantiemen an Künstler zahlen muss? (Michael Wurmitzer, 20.3.2021)