Bei der Entscheidung zur Sterbehilfe dürfte es im VfGH Differenzen gegeben haben. Doch diese sind nicht öffentlich.

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Für echte "SCOTUS watcher" – die juristisch beschlagenen Beobachter des Supreme Court of the USA – wäre das Leben ohne "dissenting opinions" recht langweilig. Interessanter als das Mehrheitsurteil am US-Höchstgericht ist die oft beißende Kritik der Minderheit, derzeit meist die auf drei geschrumpfte Gruppe der linksliberalen Richterinnen und Richter, an der konservativen Mehrheit.

Ein solches Szenario hat die türkis-grüne Koalition mit dem Entwurf des Informationsfreiheitsgesetzes für den Verfassungsgerichtshof nicht im Sinne. Aber allein das Vorhaben, einzelnen Höchstrichtern die Möglichkeit zu bieten, ihren Widerspruch zur Entscheidung öffentlich zu äußern, stößt in Juristenkreisen auf breite Ablehnung – allen voran VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter.

Er bekräftigte in der ORF-Pressestunde am Sonntag seine Ansicht, wonach solche "dissenting opinions" der Arbeitsweise des Gerichtshofs widersprechen. Eine Veröffentlichung abweichender Richtermeinungen "würde nicht zu mehr Rechtssicherheit führen", sagte er.

Alle drei Oppositionsparteien teilen die Skepsis, und ohne Zweidrittelmehrheit im Parlament wird eine Reform nur schwer umsetzbar sein.

Option eines Sondervotums

Zwar kennen auch die meisten kontinentaleuropäischen Verfassungen die Option eines Sondervotums – in Deutschland etwa besteht sie seit 1971 –, aber meist nur in besonderen weltanschaulichen Fragen als "ultima ratio". Sie sollen dann der Weiterentwicklung der Judikatur dienen, aber keine politischen Debatten auslösen und so die Legitimität der Sprüche untergraben.

Das hätte in Österreich etwa zuletzt bei der strittigen Sterberechtentscheidung umgesetzt werden können. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: ein offener Widerspruch gegen die Entscheidung oder eine Zustimmung mit einer anderslautenden Begründung ("consenting opinion").

Interessanterweise erlaubt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg "dissenting opinions", was von einzelnen Richtern gelegentlich dazu genutzt wird, mit lautstarker Kritik ein heimisches Publikum zu bedienen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg spricht hingegen stets mit einer Stimme; Abstimmungsergebnisse sind geheim. Man will in der EU unbedingt vermeiden, dass Gerichtsentscheidungen als Ausdruck nationaler Interessen gesehen werden.

Konsenssuche in Österreich

Und in Österreich? Wie Grabenwarter erläuterte, werde im VfGH während des gesamten Beratungsprozesses der Konsens gesucht. Man gehe die strittige Frage in Abstimmungsetappen durch, wobei sich die Minderheit in einer Zwischenabstimmung dann der Mehrheit anschließt und auf der nächsten Ebene wieder mitspricht und das Ergebnis mitbeeinflusst.

Der Gerichtshof zielt letztlich "auf eine einheitliche Begründung, die von der gesamten Richterschaft getragen wird". "Dissenting opinions", so die Befürchtung, könnten die Suche nach Konsens erschweren.

Unter den 14 Richtern am VfGH gibt es dem Vernehmen nach wenig Unterstützung für den Wunsch der Regierung, der vor allem von Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) betrieben wird – offenbar als Gegengewicht zu den liberalen Urteilen des VfGH; dieser hat zuletzt für die Ehe für alle, das dritte Geschlecht und die Straffreiheit für Sterbehilfe entschieden. Auch die jüngsten ÖVP-Angriffe auf die Justiz ließen die Begeisterung für uneinheitliche Richtersprüche schwinden.

Auswirkungen auf die Praxis

Aber selbst wenn sich die "dissenting opinion" im endgültigen Informationsfreiheitsgesetz wiederfindet, dürfte dies in der Praxis wenig Auswirkungen haben. Denn so wie in Deutschland würde der österreichische Gesetzgeber den Gerichtshof ermächtigen, die Geschäftsordnung zu ändern – und dieser könnte den Einsatz des Sondervotums recht strikt regulieren.

Schon 2004 hat sich der Verfassungskonvent mehrheitlich gegen "dissenting opinions" ausgesprochen. Grabenwarter war 2018 an einem ausgewogenen Bericht der Venedig-Kommission beteiligt. Dieser sprach sich vorsichtig dafür aus, allerdings unter strikten Auflagen: kein Zwang zur Veröffentlichung, nur in Ausnahmefällen, immer mit Respekt verfasst und als Teil der Entscheidung veröffentlicht.

Die Mehrheit soll außerdem die Möglichkeit haben, den Dissens aufzugreifen und doch noch eine Konsensentscheidung herbeizuführen. (Eric Frey, 22.3.2021)