Adam Zagajewski, reflektierter Zeitgenosse und Dichter einer therapeutischen Entgeisterung.

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In seiner Kindheit, schrieb Adam Zagajewski, habe er gleich "zwei Vaterländer verloren". Man wird das Schicksal des polnischen Dichters als charakteristisch ansehen – bezeichnend für ein Jahrhundert der Wölfe, das aus einer Vielzahl von Menschen hilflos Vertriebene und Geächtete machte. Zagajewskis lakonische Verlustanzeige meinte aber obendrein ein Jahrhundert der Lüge.

Als seine Familie 1945 aus Lemberg floh, verscheuchte man sie aus dem "Land der Wahrheit". Die Sowjetherrschaft brachte, unter tätiger Mithilfe von Polens KP, ein Klima des Duckmäusertums hervor. Zagajewski, der fortan in Krakau lebte, sah sich früh mit den Maßregeln des "sozialistischen Realismus" konfrontiert: einer Literatur, die ihren Adepten strikte Parteilichkeit verordnete, ausnahmslos alle Gesellschaftsmitglieder aber zu Sprachregeln von großer Formelhaftigkeit verdonnerte.

Vorreiter der "Neuen Welle"

Bereits mit seinem ersten Gedichtband "Bekanntmachung" (1972) wurde Zagajewski zum Vorreiter der "Neuen Welle": ein Vertreter jener "Generation 68", die das kommunistische Parteigewäsch als solches entlarvte und die eigene Literatur der möglichst nüchternen Wiedergabe der Wahrheit verpflichtete. Mit der Leidenspose des "gemarterten" polnischen Volkes hatte Zagajewski gleicherweise nichts zu tun. So wies er die Sonderrolle des "Hamletismus" zurück: jene Geisteshaltung, deren Vertreter jede aus bloßem Selbstmitleid geweinte Träne "gesondert besichtigen".

Der Exodus der polnischen Intellektuellen im Gefolge der Unruhen von 1968 bis 1970 führte dazu, dass sich Dichter wie Czesław Miłosz und Zbigniew Herbert quer über die Welt verstreuten. Zagajewski verließ Polen erst 1982; er ging nach Paris, ohne deswegen sein Wanderertum lyrisch ungebührlich zu überhöhen: "Immer waren wir geteilt. Die Menschheit, die Völker, / die Warteräume. / Ich bleibe einen Augenblick stehen, / unsicher, welchem Leid ich mich / anschließen soll."

Achselzucken eines Außenseiters

Der Entschluss 2002, die "schönen Gärten des Westens" wieder zu verlassen, vermochte nichts an Zagajewskis lebenslangem Gefühl einer unaufhebbaren, nichtsdestotrotz stoisch ertragenen Fremdheit zu ändern. Seine souveräne Gedankenlyrik fand im Deutschen in dem großen Karl Dedecius ihren kongenialen Übersetzer. Der Auswahlband "Die Wiesen von Burgund" (Hanser 2003) bildet ein wunderbares Einfallstor in Zagajewskis Welt, in der die Sonne "wie eine flinke Spinne" an den Fassaden zweifelhafter Prunkgebäude hochklettert.

Zagajewskis Bestimmungen jener Rolle, die die Poesie in unserer Kultur heute einnimmt, erntete den enthusiastischen Applaus von Kollegen wie Charles Simic: Der Dichter, der zuletzt auch an der Universität von Chicago gelehrt hatte, wusste um die Notwendigkeit unbedingter Abgeklärtheit. Als nutzbringender Stoff für die eigene Poesie erschien ihm eine "spezifische Art von trauergetrockneter Ironie". Sie blieb sein philanthropisches Hausmittel: das Achselzucken eines letztlich unbelehrbaren Außenseiters.

Jetzt ist Adam Zagajewski, der seit vielen Jahren als seriöser Anwärter auf den Literaturnobelpreis galt, 75-jährig in seinem geliebten Krakau gestorben. Sein Tod sei ein "großer Verlust für die polnische Literatur", schrieb umgehend Polens Präsident Andrzej Duda in einem Tweet. (Ronald Pohl, 22.3.2021)