Nicht mal die Überzeugtesten unter den zwölf fünfzackigen gelben Sternen würden behaupten, dass die EU_perfekt ist. Dass wir sie trotzdem unbedingt bräuchten, wenn es noch keine gäbe – diese Aussage würden schon deutlich mehr Personen unterschreiben. Aber wie könnte sie aussehen, die Neuerfindung einer Europäischen Union, wenn man die Lehren aus den vergangenen Jahrzehnten zieht? Mit all den kleinen und großen Erfolgen, mit entscheidenden Fehlern und ausgelassenen Chancen, die wir miterleben mussten?

Einer der es wissen muss, ist Franz Fischler. Der Tiroler ist einer von nur drei österreichischen Kommissionsmitgliedern, die bisher die Geschicke in Brüssel entscheidend mitgeleitet haben. Der scheidende Präsident des Europäischen Forums Alpbach gilt als glühender Europäer. Eine Eigenschaft, "die unserem derzeitigen Bundeskanzler, wie vielen anderen in Europa, nicht unbedingt gemein ist", sagt Fischler. Viel zu oft seien ihnen "nationale Politik, nationales Bewusstsein und die Frage, wie man möglichst viele nationale Vorteile aus der EU holen kann, wichtiger", kritisiert der Ex-Kommissar im STANDARD-Gespräch.

Ex-EU-Kommissar Franz Fischler übt scharfe Kritik an der Einstellung zu Europa von Sebastian Kurz und vielen anderen Regierungschefs in Europa.
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Er vermisse politische Kaliber und Leadership-Qualitäten wie jene der ehemaligen deutschen Bundeskanzler Kohl und Adenauer oder des italienischen Ministerpräsidenten De Gasperi aus der EU-Gründerzeit. Nachsatz: "Am ehesten hat das Kanzlerin Merkel." Wären in der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Lage Europas Staaten alle noch auf sich allein gestellt, würde die Gründung einer Union jedenfalls unter den Nägeln brennen, meint der Tiroler, der für die ÖVP im Nationalrat saß und Landwirtschaftsminister war. Sonst würde man wirtschaftlich marginalisiert.

Wäre Österreich dabei?

Auch der ausgewiesene EU-Experte und Politikwissenschafter Andreas Maurer von der Uni Innsbruck sieht im Binnenmarkt den fundamentalen Unterbau einer Gemeinschaft. Aber auch die großen Herausforderungen und Risiken seien in diesem Dorf Europa schlichtweg nur in größerer Form zu lösen. Wir brauchen also eine Union. Dass Österreich bei einer solchen Neugründung mit dabei wäre, bezweifeln sowohl Fischler als auch Maurer. "Da würde ich bei einem Sebastian Kurz, der zwischen Fidesz und Christdemokratie pendelt, nicht meine Hand ins Feuer legen", sagt Maurer.

Um die Gruppe der ehemaligen Gründerstaaten und proeuropäischen Nationen wie Spanien, Portugal, Finnland könnte sich eine Gruppe Williger formen, die eine wirklich tiefere Integration in sozial- wie verteidigungspolitischen Fragen wolle – eine wahre politische Union also, an der Österreich wohl Zweifel hegen würde. Fischler ist überzeugt, dass diese Gruppe nicht aus 27 Mitgliedern bestehen würde.Rundherum könne sich ein größerer Verband jener bilden, die lediglich den Binnenmarkt und Vorteile der Efta-Mitgliedschaft nutzen, aber mit den EU-Grundrechten schon bisher immer wieder Probleme hatten.

"Erst wenn die osteuropäischen Staaten auch bereit sind, die wahren Kosten des Binnenmarkts zu tragen, könnte man über eine Mitgliedschaft reden", sagt etwa Maurer. Die Fördertöpfe sollten freilich auch der reinen Wirtschaftsgemeinschaft, einer Efta 2.0, offenstehen. Während Fischler Schweden in einer tiefer integrierten Union sieht, hält Maurer die durchaus EU-skeptischen Skandinavier für die nächsten Austrittskandidaten.

Staatschefs entmachten

Einig sind sich Fischler und Maurer hingegen, was das hemmende Potenzial der Einstimmigkeit betrifft. Maurer plädiert dafür, auch die qualifizierten Mehrheiten in möglichst allen Bereichen abzuschaffen und durch einfache Mehrheiten zu ersetzen. Schließlich habe man bei einem etwaigen Beitritt oder einer Neugründung ja einstimmig die neuen Spielregeln oder einen neuen Vertrag akzeptiert. "Nur in diesem Fall müsse man sich auch bis auf den letzten Punkt und Beistrich einig sein", sagt Maurer. In späterer Folge aber müsse man in der Umsetzung auch mal eine Mehrheit gegen sich "schlucken können".

Dass dies in außen- und sicherheitspolitischen Fragen zweifelsohne schwierig werden würde, will Fischler gar nicht abstreiten – gerade für neutrale Staaten könnte dies ein Nichtbeitrittsgrund sein. Mit Frankreich und Belgien gibt es deutlich interventionsfreudigere Staaten, die ihre Partner mit ihren friedensschaffenden Missionen (sprich: Krieg) etwa in Afrika vor Herausforderungen stellen würden.

Innenpolitisch schwebt den beiden EU-Kennern ein parlamentarisches Zweikammersystem vor, dem eine gewählte und mit starken Befugnissen ausgestattete Kommission als Regierung vorsteht. Dazu kämen ein informell agierender Klub der Staats- und Regierungschefs als Lenkungsgremium sowie ein gestärktes Parlament samt Initiativrecht für Gesetze und Fachministerräte – alles also recht ähnlich dem aktuellen, nur dass die Leader der Mitgliedsstaaten weniger "reinpfuschen". "Aktuell funktioniert das System einfach nicht", sagt Maurer.

Die bisherige "Vergipfelung" der EU-Politik würde zwar medial funktionieren, im Endeffekt aber in reiner Ankündigungspolitik münden, bedauert der deutsche Wahlbelgier Maurer. Diese würde viel zu selten in konkrete Gesetzesvorhaben gegossen, was sich ändern müsse. Inhaltlich sieht Fischler im Green New Deal ein "zentrales Schlüsselprojekt der nächsten 30 Jahre" einer jedweden europäischen Gemeinschaft. Das Gefühl, dass dieser dringend notwendig sei, sei bei der Bevölkerung noch zu wenig ausgeprägt, sagt Fischler, der auch tiefgreifende Umbrüche für Einzelne und Unternehmen prophezeit.

Soziales Europa

Maurer hingegen sieht vor allem in der Sozialpolitik extrem viel Potenzial, Menschen für ein europäisches Projekt zu begeistern. Eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für einen europäischen Mindestlohn etwa oder eine Verordnung zur Lohngleichheit. Bis auf die europäische Eltern- und Teilzeitrichtlinie seien kollektivvertragliche Möglichkeiten der Sozialpartner bislang zu wenig ausgeschöpft worden. Dies liege an der konservativen Führung der letzten Jahre. Maurer wünscht sich viel öfter "Weißbücher, in denen große Projekte und ihre konkrete Umsetzbarkeit auf ein paar Hundert Seiten durchdekliniert werden": Welche Erfolge brächte ein rasches Handeln? Mit welchen Konsequenzen müssen wir im Falle von Nichthandeln leben? Und was würde das kosten?

Was würden wir anders machen – ein Gedankenexperiment.
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Dafür brauche es eine breitere Inklusion der Bürgerinnen und Bürger – und dass man deren Vorschläge endlich ernst nimmt. Dafür müsse man sich auf ein Risiko einlassen und keine langweiligen Gruppen nach Parteienproporz zusammenstellen, sondern Prozesse auch unkontrolliert laufen lassen, empfiehlt Maurer. Dabei kämen oft die spannendsten Projekte heraus. "Lasst doch auch mal einen EU-Skeptiker oder eine Anarchistin ihre Ideen durchdeklinieren", fordert er. So könne man auch den Parteien am rechten Rand das Wasser abschöpfen.

Selbstbewusste Politiker müssten jedenfalls damit aufhören, für billige innenpolitische Punkte von der "Regelungswut Brüssels zu reden", wenn etwa eine kleine Richtlinie zur Stromeffizienz von Kaffeemaschinen auch dem großen Ganzen, etwa dem Klimaschutz, diene.

Unsinn abstellen

Der angebliche Brüssler Wasserkopf – ein beliebtes Feindbilder ¬aller EU-Skeptiker. Klar: "Diesen Unsinn" des Doppelstandortes des Parlaments in Brüssel und Straßburg würde man nicht mehr machen, sagt Fischler. Sehr wohl aber müsse eine EU 2.0 vermehrt in den Staaten für ihr Projekt einstehen, fordert Maurer. Ein Mindestmaß an Folklore und Sprachenvielfalt tue der EU insgesamt auch nicht schlecht.Ob wir das wollen oder nicht.

Im Endeffekt läuft es auf ein Konstrukt ähnlich den Vereinigten Staaten von Amerika hinaus, sagt Maurer. "Ohne politische Lichtgestalten wird da aber nicht viel zustande kommen", zeigt sich Fischler skeptisch. Insgesamt sei die EU als Gebilde jedenfalls weder gut noch schlecht, sondern lediglich ein In¬strument, das uns dabei helfen kann, gute oder schlechte Politik für hunderte Millionen Menschen zu machen, ist Fischler überzeugt.

Aber wer führt uns da hin in dieses Europa? In Dänemark oder Frankreich gehöre es jedenfalls zum guten Ton, einmal "in der EU" gewesen zu sein, bevor man national Karriere machen kann, erklärt Maurer. Ein Gedanke, dem auch Fischler durchaus etwas abgewinnen kann. "Vor allem verstünden sie dann mal, wie es funktioniert." Vielleicht ist es auch genau das, was eine neue, eine andere EU bräuchte: etwas mehr Verständnis. (Fabian Sommavilla, 26.3.2021)