Tigrays erste Christen müssen Verfolgungen gewohnt gewesen sein: Die Bewohner der nordäthiopischen Provinz meißelten ihre Kirchen vor 1500 Jahren in steile Felswände, nur über halsbrecherische Pfade erreichbar. Die Höhlenkirche von Maryam Dengelat blieb sogar ganz abgeschnitten, seit vor rund 400 Jahren ein Felssturz ihren Eingang mit sich in die Tiefe riss. Erst vor zwei Jahren machten Alpinisten das spektakuläre Gotteshaus für schwindelfreie Priester wieder zugänglich. Das jährliche Marienfest findet am 30. November am Fuß der Felswand statt. Doch das jüngste endete in einem Blutbad.

Angehörige trauern um die Opfer eines Massakers im Dorf Dengolat, nördlich der tigrischen Hauptstadt Mek’ele.
Foto: AFP / Eduardo Soteras

Mehrere Hundert Gläubige hatten sich um die Mittagszeit zur Messe versammelt, als plötzlich Soldaten im Dorf auftauchten und zu schießen begannen, berichtete eine Augenzeugin dem US-Sender CNN. Viele seien in Panik aus der Kirche geflohen. Die Angreifer seien aus Eritrea gewesen, heißt es in den Zeugenberichten. Insgesamt sollen bis zu 150 Menschen ermordet worden sein.

Von der Außenwelt abgeriegelt

Es ist einer von vielen Schreckensberichten aus Tigray: Aber sie werden nur langsam bekannt. Bisher hat die Regierung die Provinz hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. Schon Ende November hat Premier Abiy Ahmed den Feldzug gegen Tigrays politische Führung für "siegreich beendet" erklärt: Es habe "keinerlei zivile Opfer" gegeben, behauptete er. Immer neue Berichte haarsträubender Gräueltaten strafen den Friedensnobelpreisträger jetzt Lügen.

Für den Premier mag der Krieg in Tigray gegen die einst staatstragende Ethnopartei TPLF, die Abiy 2018 aus der Bundesregierung in Addis Abeba verdrängt hatte, gewonnen sein: Doch er droht den Frieden in Äthiopien zu verlieren. Seit der "Strafexpedition" von Anfang November befindet sich der zweitbevölkerungsreichste Staat Afrikas im Schockzustand. Die Mehrheit der Bewohner ist über die endgültige Zerschlagung der dreißigjährigen Herrschaft der tigrischen Elite gewiss erleichtert. Doch wovon wird diese nun abgelöst?

Kampf dem Zentralstaat

Die Reformen, die Abiy Ahmed vor drei Jahren versprach und mit denen er an die Macht gelangte, haben vor allem militante Jugendliche aus Oromia erzwungen. Sie gehören, anders als die Tigrayer, einer der beiden größten Gruppen im Vielvölkerstaat an. Sie hatten sich, so wie die zweite Großgruppe, die Amharen, benachteiligt gefühlt, durch die TPLF-geführte Regierung. Beide machten je ein Drittel der Bevölkerung aus.

Die Ernennung Abiys, Sohn eines muslimischen Oromo und einer christlichen Amharin, zum Premier sahen die Nationalisten als Etappensieg: Endlich würden sie ihren eigenen Teilstaat, ein selbstbestimmtes Oromia, erhalten. Die ideologische Voraussetzung hatte vor drei Jahrzehnten ausgerechnet der tigrische Erzfeind geschaffen, als er das Land in neun Provinzen aufteilte: Mit dem "ethnischen Föderalismus" hatte die Minderheit der Tigrayer (nur gut fünf Prozent der Bevölkerung) ihre Macht in der Zentralregierung zementiert.

Schon vor Abiys Strafexpedition in den Norden des Landes sahen sich die oromischen Nationalisten um ihre Hoffnungen betrogen. Der Premier stellte sich als Gegner des ethnischen Föderalismus heraus, wandelte sogar das auf einer Koalition ethnischer Parteien beruhende Regierungsbündnis "Ethiopian Peoples’ Revolutionary Democratic Front" (EPRDF) in die unitaristische "Wohlstandspartei" um.

Seine Kompromisslosigkeit machte Abiy im Umgang mit der Galionsfigur der Nationalisten, Jawar Mohammed, deutlich. Vor zwei Jahren aus dem US-Exil zurückgekehrt, wurde der Aktivist und Gründer des Mediennetzwerks Oromia wiederholt verhaftet und terroristischer Umtriebe angeklagt. Jüngst suchte der 34-Jährige seine Freilassung vergeblich mit einem Hungerstreik zu erzwingen.

Auf diese Weise bereite sich Abiy auf einen Sieg in den für Juni geplanten Wahlen vor, heißt es. Der Urnengang – der erste, dem sich Abiy zu stellen hat – war bereits im August 2020 fällig, wurde von der Regierung jedoch verschoben, offiziell wegen der Corona-Pandemie. Seitdem sprachen die Provinzfürsten der TPLF dem Regierungschef die Legitimation ab. Regionalwahlen, die sie später entgegen dem Willen Abiys abhalten ließen, wurden schließlich zu einem Anlass des Krieges.

Afrikas Schlafwandler

Denkfabriken wie die Internationale Krisengruppe (ICG) fordern Abiy zum "nationalen Dialog" auf, um den Konflikt statt auf dem Schlachtfeld am Verhandlungstisch zu lösen – ohne Erfolg. Sollten die Spannungen ein weiteres Mal eskalieren, warnen Kenner des Landes, könne das ganze Horn von Afrika explodieren. Im Schatten des aktuellen Konflikts baut sich nämlich eine viel größere Konfrontationswelle auf. Abiys Allianz mit dem einstigen Feind Eritrea – dessen Truppen in Tigray im Einsatz sind, wie Abiy nun erstmals eingestand – ist vielen ungeheuer. An der Grenze zwischen Tigray und dem Sudan, auf einem umstrittenen Stück Weideland, wachsen die Spannungen. Ein Konflikt könnte sich zu einem Regionalkrieg auswachsen. Der Sudan würde dann wohl von Ägypten unterstützt, warnen Experten. Denn Kairo hat mit Addis Abeba ohnehin noch eine Rechnung offen.

Äthiopien hält standhaft daran fest, den Great-Ethiopian-Renaissance-Staudamm (GERD) am Nil zu füllen. Ägypten, dessen Landwirtschaft daran hängt, dass genug Nilwasser ankommt, droht schon lange mit Krieg. (Johannes Dieterich, Manuel Escher, 24.3.2021)