"Gesunde, jüngere Menschen im Norden werden wohl vor Risikogruppen im Süden geimpft", vermutet Ökonom Werner Raza.

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Die Worte von Tedros Adhanom Ghebreyesus sind einprägsam gewesen. "Die Welt steht am Rande eines katastrophalen moralischen Versagens, und der Preis dafür wird mit Leben in den ärmsten Nationen bezahlt", sagte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jänner 2021.

Schon davor beschäftigte die Frage der globalen Impfstoffproduktion und -verteilung NGOs und Wissenschafter. Denn insbesondere Schwellen- und Entwicklungsländer gelten in der Pandemiebekämpfung als chronisch unterversorgt.

Beim Zugang zu Impfstoffen sei die Ungleichheit zwischen Nord und Süd extrem, sagte etwa Werner Raza, Leiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE), bei einem Mediengespräch Mitte Februar. "Gesunde, jüngere Menschen im Norden werden wohl vor Risikogruppen im Süden geimpft", sagte der Ökonom. Die globale Durchimpfung werde vermutlich frühestens 2023 erfolgt sein.

Patente auflösen

Eine Studie US-amerikanischer und italienischer Forscher zeigte, dass eine gerechte Verteilung der Impfstoffe die weltweiten Todesfälle halbieren könnte. Doch wie kann man dieses Ziel umsetzen? Die Aufhebung von Patenten wird häufig als Option gehandelt, um international mehr Impfstoffe herstellen zu können. Nationen, die derzeit auf Importe angewiesen sind, könnten dadurch selbst zu Herstellern werden.

Entsprechende Produktionsstätten gibt es etwa in Brasilien, Argentinien, Mexiko, Südafrika und Indien, doch der Großteil bleibt aufgrund fehlender Lizenzvereinbarungen bisher ungenutzt. Obwohl WHO-Mitgliedsstaaten in einer Pandemiesituation die Möglichkeit haben, Zwangslizenzierungen von Arzneien zu erwirken, gibt es auch dabei bremsende Faktoren.

Wissenstransfer

Impfstoffproduzenten sind aber nicht verpflichtet, das für die Herstellung nötige Know-how zu teilen. Ohne diesen Wissenstransfer muss jedoch viel Zeit investiert werden, um zu sicher produzierten Vakzinen zu kommen. "Wichtigen pharmazeutischen Produzentenländern im Globalen Süden muss ermöglicht werden, sich an der globalen Produktion umfassend zu beteiligen", betont Raza. Bisher scheiterten derartige Anstrengungen vor allem am Widerstand der EU und der USA.

Für Staaten mit geringer Finanzkraft gibt es aber auch Grund für vorsichtigen Optimismus: Bis Ende 2021 sollen im Rahmen der WHO-Initiative Covax mindesten zwei Milliarden Impfdosen bereitstehen, um die akute Phase der Pandemie zu beenden.

Ärmere Nationen sollen mindesten 1,8 Milliarden Dosen erhalten, davon 1,3 Milliarden kostenfrei, um noch heuer rund 28 Prozent ihrer Bevölkerung immunisieren zu können. Als erstes Land der Welt erhielt Ghana Lieferungen aus dem Covax-Pool, weitere Dosen gingen unter anderem an Nigeria, die Elfenbeinküste, Guatemala, Kolumbien, Kambodscha, die Philippinen oder auch Moldawien.

Größte Vakzin-Fabrik

Eine zentrale Stellung hat dabei der weltweit größte Fabrikant von Vakzinen inne, das Serum Institute of India (SII). Aktuell fertigt das Unternehmen unter Lizenz den Astra-Zeneca-Impfstoff, wie Stephan Kloos, Direktor des Instituts für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), berichtet. Bis Anfang März seien bei SII mehr als eine Milliarde Dosen vom Band gelaufen. "121 Millionen davon wurden der Covax-Initiative beigesteuert", sagt der Medizinanthropologe.

Aus Sicht der Wissenschaft ist Covax ein Meilenstein. "Durch die Initiative wird eine grenzüberschreitende moralische Verpflichtung anerkannt, die nicht bei schönen Worten endet, sondern der konkrete Handlungen folgen", erklärt Marie-Luisa Frick von der Universität Innsbruck.

In puncto Verteilungsgerechtigkeit verweist die Philosophin jedoch auf ganz praktische Probleme wie den gesicherten Transport und die Lagerung. Die Umsetzung der globalen Verteilung sei aufgrund des fehlenden Unterbaus in der Logistik eine enorme Herausforderung.

"Wir brauchen derzeit weniger die Gerechtigkeitsüberlegungen als vielmehr die Strukturen und Ressourcen, um die Verteilung an schwächere Staaten überhaupt bewerkstelligen zu können", sagt die Forscherin. Dem Vorwurf, reiche Nationen würden nur auf sich achten und in einen Impfnationalismus verfallen, möchte sie ein differenziertes Bild dagegenhalten. "In westlichen Industriestaaten ist das Durchschnittsalter höher, und damit ist auch das Mortalitätsrisiko anders gelagert."

Vorkehrungen für die Zukunft

Nachdem der Start der Impfkampagnen in der EU schleppend war, könnten Nationen nun beginnen, essenzielle Vorkehrungen für die Zukunft zu treffen. Experten sehen die fehlende Kooperation großer Staaten als ein schwerwiegendes Versäumnis des ersten Jahres der Corona-Pandemie. Es seien Staaten, die ansonsten in Krisenzeiten etwa auch im UN-Sicherheitsrat zusammenarbeiten.

Die großen Militärmächte würden die entsprechenden Ressourcen besitzen, um Impfstoffe transportieren, verteilen und sachgemäß verwahren zu können. Die bisherigen Covax-Lieferungen wurden meist von den Soldaten der jeweiligen Empfängerländer abgewickelt.

"Langfristiges Denken ist jetzt wichtig, um künftig mit derartigen Herausforderungen umgehen zu können, denn die Pandemie wird andauern", sagt die Philosophin Marie-Luisa Frick. Sie weist auch auf die Problematik überschüssiger Impfstoffe hin.

Überschüsse verteilen

Zu Beginn der Vakzinproduktion war nicht klar, welche Impfstoffe zuerst eine Zulassung erhalten würden. Etliche Staaten orderten daher bei mehreren Produzenten gleichzeitig und könnten somit weit mehr Dosen erhalten, als sie benötigen. "Schon jetzt kann man überlegen, was mit Überschüssen passiert, wie lang diese haltbar sind und wie man sie an wen liefern könnte", lautet ihre Empfehlung.

Nicht Eigenverantwortung sei die Devise der Zukunft, sondern Mitverantwortung. Denn es sei durchaus möglich, an sich und gleichzeitig an andere zu denken. Manche wohlhabende Nationen haben schon jetzt Impfdosen auch auf bilateraler Ebene an einkommens- oder strukturschwache Länder gespendet. So hat Israel Vakzine an Guatemala abgegeben, während Saudi-Arabien Impfungen für den Gazastreifen zur Verfügung stellte. (Marlene Erhart, 1.4.2021)