Zeitzeugen: Vergessene Streichholzschachteln, leere Flaschen und halb gegessene Brotstücke tummeln sich in Spoerris an die Wand gehängten Assemblagen.
Foto: Stefan Rötheli, Zürich

"Nein", antwortet Daniel Spoerri. Er könne nicht sagen, worin das Reizvolle des Alltäglichen liege. Es ist dem Objektkünstler und Meister der Assemblagen vorgefundener Gegenstände schier nicht möglich. Den Reiz müsse jeder Mensch für sich in seinem Werk finden. Irgendwo liegt er zwischen dem vertikal gehängten Geschirr, den Essensresten, den aufgereihten Kartoffelschälern und aufgetürmten Flohmarktwaren.

In einer umfassenden Retrospektive, die am Mittwoch eröffnet, fächert das Bank-Austria-Kunstforum Wien das Werk des Schweizer Künstlers auf, der seit 2007 in Wien lebt. Erstmals seit 30 Jahren wird es in einer solchen Dichte präsentiert und mit mehr als 100 Werken aus sieben Jahrzehnten offengelegt. Regiert wird sein Werk vom Zufall. Und dieser ist Spoerri, der am Samstag 91 Jahre alt wird, bereits mehrmals in die Falle gegangen.

Bekannt für seine "Fallenbilder"("Tableaux pièges"), auf denen er ab den 1960er-Jahren Tischszenen mitsamt Tischtüchern, gefüllten Gläsern und Aschenbechern festgehalten hat, schrieb sich Spoerri in die Kunstgeschichte ein. Seine Werke befinden sich in den großen Museen der Welt. Zwar beeinflusste ihn das Konzept des Readymades von Marcel Duchamp – den er einmal als seinen Großvater bezeichnete. Doch anders als dieser erklärte er nicht einzelne Gegenstände zu Kunstwerken, sondern ganze Situationen. Dies sei, laut Spoerri, sehr viel komplexer.

Begonnen hat Daniel Spoerri mit Konkreter Poesie: Seine Objekte entpuppten sich zunehmend als konkrete Selbstdarsteller.
Foto: Rita Newman

Klapperschlange und Zeit

Insbesondere das gemeinsame Essen als sozialer Akt rückte immer stärker ins Zentrum seiner Arbeit. Er verwandelte Galerien in Paris, Zürich oder New York in Lokale, ließ Kunstkritiker servieren und bekochte das Publikum. Was dieses übrig ließ, hielt Spoerri fest.

1968 eröffnete er in Düsseldorf das Restaurant Spoerri, wo er Exotisches wie Seehundragout oder Klapperschlange anbot und den Begriff der Eat Art (essbare Kunstobjekte!) prägte. Indem er diese Alltagssituationen ins Vertikale kippte, erhob er sie zu Kunstwerken – und machte sie zu ewigen Zeugen des Gelebten. In den reliefartigen Wimmelbildern fing Spoerri das Flüchtigste überhaupt ein: Zeit.

Doch um Spoerris Hauptwerk verstehen zu können, müssen seine Ursprünge ergründet werden. Als Daniel Isaac Feinstein 1930 in Rumänien geboren, wuchs er nach der Flucht 1942 in die Schweiz bei seinem Onkel auf, von dem er seinen Nachnamen erbte. Nach einer Ballettausbildung wurde er Erster Tänzer des Berner Stadttheaters und ging 1957 als Regieassistent nach Darmstadt. Dort kam er mit Konkreter Poesie in Berührung, die Ausgangspunkt seiner Kunst wurde.

In loser Chronologie startet die Ausstellung mit ebendiesen Anfängen. Unterschiedliche Stationen zeigen Spoerri als Sprachkünstler und Netzwerker. Er kam mit der Zero-Gruppe in Düsseldorf in Kontakt und wurde Gründungsmitglied des Nouveau Réalisme in Paris.

In seinen "Détrompe-l’Œils" erweiterte Spoerri Gemälde (in diesem Fall einen Teppich) durch Objekte ins Dreidimensionale.
Foto: Giorgia Palmisano

Demokratisierung der Kunst

In dieser Zeit initiierte er auch die Edition MAT (Multiplication d’art transformable) und produzierte mit Künstlerfreunden wie Jean Tinguely oder Man Ray Kunsteditionen. "Nicht die Ausführung, sondern die Idee der Kunstwerke ist das Wichtige", erklärt Kuratorin Veronika Rudorfer. "Und diese kann laut Spoerri multipliziert werden."

Von diesem Gedanken einer demokratisierten Kunst angetrieben, erschafft Spoerri bis heute Kunst, aus dem, was er vorfindet. 2009 eröffnete er in Hadersdorf am Kamp sein Ausstellungshaus mit angehängtem Esslokal.

Neben seinen "Fallenbildern" entstanden Anfang der 1960er-Jahre auch "Détrompe-l’Œils", also durch Objekte ins Dreidimensionale erweiterte Gemälde, sowie zu Assemblagen aufgetürmte Flohmarktwaren: Puppenteile, Lampen, Besteck. Oft sieht es so aus, als seien hier Theaterrequisiten zu Boden gefallen und Spoerri habe sie nur noch fixieren müssen.

Hier widerspricht einer der letzten Ausstellungsräume, der als Mix aus akkurater Werkstatt und Sammelsuriumkabinett komponiert ist. Nudelräder, Sonnenbrillen oder Eierbecher (sogar in eiförmigem Regal) sind hier zu Kollektionen aufgereiht. Zumindest hier scheint dem Zufall ein Schnippchen geschlagen.

Eine klassische "Tableau piège" aus dem Jahr 1972.
Foto: Augustin Ochsenreiter

Lebenswerk-Knoten

Einerseits gerät die Schau an manchen Stellen zu dicht, hängen hier doch viele (prallgefüllte) Werke nahe beieinander. Andererseits harmoniert diese – wenn auch etwas brav auf Vollständigkeit bedachte – Präsentation genau deshalb mit den Arbeiten. Spoerris diverses Lebenswerk spiegelt sich hier in seiner Dichte wider.

Die Retrospektive fängt alle Fäden seiner Praxis ein und knotet sie fest. So stellt sie die "Fallenbilder" als Herz ins Zentrum, mäandert in einem Seitenraum zu Spoerris auf der griechischen Insel Symi entstandenen "Zimtzauberkonserven" aus gefundenen Materialien, vorbei an seinen Bronzeskulpturen und mündet schließlich in seinem toskanischen Anwesen Il Giardino di Daniel Spoerri, das er seit 1997 als öffentlichen Skulpturengarten gestaltet.

Mit Arbeiten bekannter Kunstschaffender wie Meret Oppenheim und Niki de Saint Phalle hat er dort seine größte Assemblage geschaffen. Zur Abwechslung aber in der Horizontalen. (Katharina Rustler, 24.3.2021)