Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt alle uns bekannten Elementarteilchen und die Wechselwirkungen zwischen ihnen. In den vergangenen Jahren konnte die Hochenergiephysik vor allem durch Experimente am europäischen Kernforschungszentrum Cern das Standardmodell nach und nach vervollständigen. Nun haben Cern-Forscher Daten zweier Messungen vorgelegt, die auf eine Verletzung des Standardmodells hinweisen. Sollten sich die Messungen bestätigen, wären das empirische Daten zu einer Physik jenseits des Standardmodells – und damit das Fenster zu einer neuen Physik.

Der Zerfall von Beauty Quarks in Elektronen oder Myonen ist ein äußerst seltenes Ereignis. Neue Messungen dazu vom LHCb-Experiment liefern nun Hinweise auf eine Physik jenseits des Standardmodells.
Illustration: Cern

Die verblüffenden Ergebnisse wurden am Dienstag im Rahmen der Fachkonferenz Moriond und in einem Seminar am Cern in Genf präsentiert. Gesammelt wurden die Daten vom "Large Hadron Collider beauty"-Experiment (LHCb-Experiment), einem der vier großen Experimente des Beschleunigerrings LHC am Cern.

Abweichung zwischen Theorie und Experiment

Das Standardmodell der Teilchenphysik sagt voraus, dass sich die schweren Partner des Elektrons, das Myon- und das Tau-Teilchen, genauso wie das Elektron verhalten. Dieses identische Verhalten der Teilchen, die alle zur Gruppe der Leptonen gehören, wird als Lepton-Universalität bezeichnet. Seit 2014 deuten Messungen am LHC jedoch darauf hin, dass die Lepton-Universalität in einigen Zerfällen verletzt werden könnte: In den untersuchten Zerfällen von Teilchen, die ein sogenanntes Beauty Quark enthalten, sollten Zerfälle in Elektronen und Myonen mit gleicher Wahrscheinlichkeit gefunden werden. Tatsächlich wurden aber kleine Abweichungen registriert.

Unter Verwendung aller vom LHCb-Detektor gesammelten Daten zu Zerfällen von Beauty-Quarks konnte nun eine neue Analyse zum Verhältnis der Zerfallsprodukte vorgelegt werden – mit einer viel höheren Präzision als bei früheren Messungen. Demnach beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Daten mit der theoretischen Vorhersage vereinbar sind, nur noch 0,1 Prozent. Der Untersuchungswert liegt bei einer Signifikanz von 3,1 Standardabweichungen. Als Goldstandard für eine eindeutige Entdeckung gilt eine Signifikanz von fünf Standardabweichungen.

Ein Blick in den unterirdischen Aufbau des LHCb-Experiments.
Foto: Cern

"Andere Experimente schauen sich jetzt natürlich auch an, ob vergleichbare Effekte gemessen werden können, und auch die Theoretiker schauen sich jetzt an, wie diese Messungen erklärt werden können – solche Resultate regen immer sehr viele neue Überlegungen im ganzen Gebiet an", sagt Niko Neufeld. Der gebürtige Österreicher ist für die IT-Infrastruktur des LHCb-Experiments zuständig und war daher ebenfalls an den Messungen zur Lepton-Universalität beteiligt.

Hinweise auf ein neues Teilchen oder eine neue Kraft?

Noch ist es also zu früh, um endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass sich die Messung zur Verletzung der Lepton-Universalität in eine Reihe früherer Messungen einfügt. "Wenn die Verletzung der Lepton-Universalität bestätigt werden kann, würde das einen neuen physikalischen Prozess verlangen, wie die Existenz eines neuen Elementarteilchens oder einer neuen Wechselwirkung", sagt Chris Parker, Sprecher des LHCb-Experiments.

Wenn ein Teilchen in ein anderes zerfällt, besteht laut der Quantenfeldtheorie die Möglichkeit, dass "innerhalb einer sehr kurzen Zeit ein sogenanntes 'virtuelles Teilchen' zwischen den beiden Zerfallsprodukten ausgetauscht wird", sagt Neufeld. Bei den Analysen der Daten werden sämtliche Möglichkeiten für solche virtuellen Teilchen berücksichtigt. "Wenn es ein weiteres Teilchen gäbe, das wir nicht in unserer derzeitigen Theorie haben, das aber in der Natur existiert, dann könnte das die Abweichung zwischen dem Experiment und der theoretischen Vorhersage erklären", sagt Neufeld. "Um solche Teilchen im Labor zu erzeugen, muss man oft sehr viel Energie einsetzen, und die haben wir derzeit nicht. Aber da die virtuellen Teilchen nur ganz kurz existieren, kann man ein wenig schummeln und bekommt eine Art Sneak Preview auf das, was in der Natur möglich ist." Genau das mache derartige Hochpräzisionsmessungen auch so interessant, "sie erlauben uns, indirekt auf die Existenz von Teilchen zu schließen, die man noch nicht direkt erzeugen kann", sagt Neufeld.

Wenn sich die Hinweise erhärten und die Differenz zwischen Theorie und Experiment mit noch größerer Präzision bestätigt wird, gebe es noch eine weitere Möglichkeit, das zu erklären. "Neben den drei Wechselwirkungen im Standardmodell könnte es noch eine weitere geben", sagt Neufeld.

Wie es weitergeht

Nach einem Upgrade des LHC hoffen die Cern-Forscher, im kommenden Jahr noch genauere Daten zur Lepton-Universalität sammeln zu können. "Nächstes Frühjahr beginnen wir mit dem neuen Run vom LHC, und da müssten wir deutlich mehr Daten bekommen, mindestens einen Faktor fünf, und das wird uns erlauben, die Unsicherheit zu reduzieren", sagt Neufeld. Mit neuen Resultaten zur Lepton-Universalität ist vermutlich erst ab 2023 zu rechnen, meint Neufeld, "die Analysen sind blinde Analysen, um einen Confirmation-Bias zu verhindern, und dauern daher einige Zeit". Bis dahin muss uns noch das Standardmodell der Teilchenphysik dienen. (Tanja Traxler, 23.3.2021)