Schon zu Beginn der Corona-Pandemie reagierte eine Gruppe schneller als alle anderen auf die weltweite Infektionswelle: Kriminelle. Jürgen Stock, Generalsekretär von Interpol, zeigt sich erstaunt, wie dynamisch diese Anpassung erfolgte. Impfstoffe bezeichnet er als das "flüssige Gold" des Jahres 2021. Straftäter würden vermehrt versuchen, gefälschte Impfstoffe in den legalen Vertriebsweg einzuschleusen.

Interpol-Chef Jürgen Stock warnt: Cyberkriminelle haben durch verstärktes Homeoffice mehr Angriffsflächen.
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STANDARD: Wie verdienen Kriminelle mit der Pandemie Geld?

Stock: Das kriminelle Geschäft mit der Pandemie hat schnell Fahrt aufgenommen. Man könnte von einer Parallelpandemie spezifischer Kriminalitätsformen sprechen. Ich war erstaunt, wie schnell und dynamisch gut organisierte und global agierende Banden die neuen Verwundbarkeiten unserer vernetzten Gesellschaften und die Ängste der Menschen für ihre kriminellen Geschäfte ausgenutzt haben.

Bereits im März des vergangenen Jahres hatte die Mehrzahl der gefälschten Medizinprodukte, die wir in einer von Interpol koordinierten Operation von 90 Staaten sicherstellen konnten, Bezug zu Covid-19. Angebliche Corona-Medikamente und -tests, minderwertige Schutzmasken, unwirksame Desinfektionsmittel. Dass die Umstellung auf die neuen Gegebenheiten derart schnell erfolgte, zeigt die Dynamik in dieser kriminellen Branche, in der immense Profite zu erzielen sind.

STANDARD: Spielt Homeoffice eine Rolle?

Stock: Die Homeoffice-Tätigkeit an Heimarbeitsplätzen, die nicht immer den Anforderungen der IT-Sicherheit genügen, ergibt für Cyberkriminelle viele neue Möglichkeiten, etwa mit Schadsoftware in Computernetze von Firmen oder Krankenhäusern einzudringen. Leider hat auch der Umsatz von Bild- und Videomaterial im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch von Kindern in vielen Ländern stark zugenommen. Zudem attackieren entsprechende Kriminelle Kinder über das Netz und versuchen auszunutzen, dass sie pandemiebedingt mehr Zeit vor dem Rechner verbringen.

STANDARD: Was ist mit gefälschten Impfstoffen, dem "flüssigen Gold 2021"?

Stock: Impfstoffe gehören in der Tat bis auf weiteres zu den begehrtesten und wertvollsten Gütern weltweit, und Kriminelle versuchen, diese Lage auszunutzen. Dabei gab es immer schon Handel mit gefälschten Medizinprodukten, zum Beispiel angeblichen Malariamedikamenten. Straftäter werden vermehrt versuchen, auch gefälschte Covid-19-Impfstoffe in den legalen Vertriebsweg einzuschleusen oder direkt im Internet anzubieten. Aber wir sind noch am Anfang dieser Kriminalitätswelle. Über 130 Staaten der Welt haben ja mit dem Impfen noch gar nicht angefangen. Andererseits sind natürlich solche Staaten und Märkte besonders im Zielspektrum, die über kein gut organisiertes Gesundheitssystem mit geregelten Lieferketten und Vertriebskanälen verfügen. Europa etwa ist hier gut geschützt. Zudem ist festzustellen, dass es derzeit keinen zugelassenen Impfstoff im Internet zu kaufen gibt.

Erst vor wenigen Tagen stellten Zollbeamte in Mexiko gefälschte Corona-Vakzine in einem Privatflugzeug sicher.
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STANDARD: Wo bestehen hier die größten Schwierigkeiten für Ermittler?

Stock: Diese Kriminalität ist überwiegend internetbasiert und daher, wie die Pandemie, ein globales Problem, das nur durch internationale polizeiliche Zusammenarbeit wirksam bekämpft werden kann. Diese ist aufwendig, erfordert wegen der Flüchtigkeit der Beweismittel im digitalen Raum Schnelligkeit und bedarf spezieller kriminalistischer Fähigkeiten, über die viele Polizeien dieser Welt nicht oder nicht ausreichend verfügen. Interpol versucht, diese Lücken zu schließen, unter anderem durch die Entwicklung von Ermittlungswerkzeugen in Zusammenarbeit mit der Industrie. Wir alle müssen übrigens die IT-Sicherheit noch systematischer in den Blick nehmen angesichts einer immer stärker vernetzten Welt, die noch nie dagewesene globale Tatgelegenheiten für Kriminelle bietet.

STANDARD: Haben Sie ein Beispiel für einen Fahndungserfolg?

Stock: Jüngst hatten wir einen Fall, bei dem wir Afrika und China zusammengebracht haben. China war der Ausgangspunkt des Vertriebs gefälschter Impfstoffe, die in Südafrika sichergestellt worden waren. Die Fälschungen konnten nicht nur vom Markt genommen werden, auch die Hinterleute wurden in China durch die dortigen Behörden festgenommen. Derartige Fälle werden wir in Zukunft gehäuft sehen. Was heute in Asien auftritt, kann demnächst in Südamerika oder sonst wo auftreten, der Markt ist wie gesagt global und dynamisch, und die Rolle von Interpol als globalem Frühwarnsystem und Knotenpunkt für die internationale polizeiliche Zusammenarbeit wichtiger denn je. Wir arbeiten auch eng zusammen mit der WHO und mit Pharmaunternehmen, um unsere Lageerkenntnisse etwa in die Sicherung der Impfstofflieferketten und das Erkennen angebotener gefälschter Impfstoffe einfließen zu lassen.

STANDARD: In Zukunft soll es auch in Europa digitale Impfausweise geben ...

Stock: Ja, wir sehen, dass gefälschte Zertifikate über erfolgte Impfungen oder negative Tests bereits im Netz angeboten werden. Wenn die Staaten sich entschließen, verstärkt solche globalen Zertifikate zu entwickeln, müssen wir in Zukunft davon ausgehen, dass Kriminelle sich auch das zunutze machen.

STANDARD: Beraten Sie hier auch die EU in Hinsicht auf IT-Sicherheit?

Stock: Natürlich speisen wir unsere Informationen, die wir aus der polizeilichen Lagebeurteilung bekommen, über unsere Nationalen Zentralbüros in unseren 194 Mitgliedsstaaten mit ein. Ganz generell gilt, auch bei der Pandemiebekämpfung Sicherheit vor kriminellen Angriffen bei der Produkt- und Prozessentwicklung mit einzuplanen. Die Parallelpandemie krimineller Handlungen belegt diesen Bedarf leider eindrucksvoll. (Manuela Honsig-Erlenburg, 24.3.2021)