Ob die EU noch Bedarf für den russischen Corona-Impfstoff Sputnik V hat, wurde EU-Binnenkommissar Thierry Breton vor wenigen Tagen im französischen Fernsehen gefragt. Seine Antwort war ein klares "Nein", denn es gebe für die nächsten Monate ausreichend Vakzine aus europäischer Produktion. Breton wurde sogar noch optimistischer: Bis zum 14. Juli – dem französischen Nationalfeiertag – sei in Europa Herdenimmunität gegen Covid-19 durch Impfungen erreichbar.

Ist dieses hehre Ziel in weniger als vier Monaten tatsächlich zu schaffen? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst einmal zu klären, was mit diesem epidemiologischen Begriff Herdenimmunität eigentlich genau gemeint ist. In aller Kürze versteht man darunter einen bevölkerungsweiten indirekten Schutz vor einer ansteckenden Krankheit wie Covid-19, die sich dadurch nicht mehr weiter ausbreiten kann. Je infektiöser die Krankheit ist, desto höher muss der Anteil der dagegen immunisierten Personen sein. Bei Covid-19 schätzte man diesen Wert ursprünglich auf 60 bis 70 Prozent.

Das Konzept der Herdenimmunität erläutert am Beispiel der Grippe. Je mehr Personen geimpft sind, desto weniger gut kann sich eine Infektion ausbreiten.
Grafik: NIAID

Entstehen kann Herdenimmunität entweder durch Impfungen oder als Resultat einer Durchseuchung, auf die einige Länder ganz zu Beginn der Pandemie noch hofften. Doch hohe Infektions- und Todeszahlen machten schnell klar, dass es sich dabei um einen Holzweg handelte. Auch wenn etwa in Österreich die Durchseuchung aktuell auf 10 bis 30 Prozent geschätzt wird (die optimistischen 30 Prozent stammen von Ages-Chef Allerberger), ist offensichtlich, dass der Weg zur Herdenimmunität nur über Impfungen führen kann. Zumal auch der Schutz durch überstandene Infektionen etwas geringer sein dürfte als gedacht.

Skepsis unter Experten

Im Gegensatz zum französischen EU-Politiker Breton sind internationale Wissenschafterinnen und Wissenschafter skeptischer, dass dies so einfach und schnell gelingen wird. Denn es gibt neben den dafür nötigen Impfstoffmengen noch etliche weitere Faktoren, von denen es abhängt, ob dieses Ziel erreicht werden kann. Und nicht wenige davon sind noch ziemlich unberechenbar, wie ein neuer Bericht auf der Nachrichtenseite des Wissenschaftsmagazins "Nature" zeigt.

So ist erstens nach wie vor offen, ob und wie gut die Impfungen vor der Weitergabe des Virus schützen. Offensichtlich ist, dass alle Impfstoffe das Risiko von Erkrankungen mit Symptomen stark reduzieren. Aber noch fehlen bei allen vier zugelassenen Impfungen verlässliche Daten zum Übertragungsschutz. Doch je geringer der ist, desto mehr Menschen müssen geimpft werden, um rein rechnerisch zur Herdenimmunität zu gelangen.

Risiko der Reinfektionen

Zweitens ist die Durchimpfungsrate international uneinheitlich – und wird es wohl auch noch nach dem Sommer sein. Auch wenn man für Europa auf relativ ähnliche Quoten hoffen darf, so wird es global und mittelfristig betrachtet starke Unterschiede geben. Das wiederum erhöht das Risiko von Einschleppungen und auch von Reinfektionen mit neuen Virusvarianten.

Denn drittens mischen die Sars-CoV-2-Mutanten auch in der Frage der Herdenimmunität die Karten neu – und zwar gleich mehrfach. Ansteckendere Mutanten wie B.1.1.7 erhöhen aufgrund der höheren Basisreproduktionszahl R0 (also wie viele Menschen durch einen Infizierten ohne alle Vorsichtsmaßnahmen im Schnitt angesteckt werden) den Bevölkerungsanteil der Immunisierten, der für das Erreichen der Herdenimmunität nötig ist. Konkret: B.1.1.7 dürfte die nötige Prozentzahl der Immunisierten auf über 70 Prozent angehoben haben.

Dazu kommen Varianten wie die "südafrikanische" Mutante B.1.351, die "immunevasiv" sind und gegen die Impfstoffe schlechter wirken. Auch das macht Herdenimmunität unwahrscheinlicher. Unklar ist zudem, wie hoch die Impfbereitschaft nach den Diskussionen der letzten Wochen um aufgetretene Nebenwirkungen sein wird. Außerdem: Wann wird es Impfungen auch für Kinder und Jugendliche geben, um den Prozentsatz der Immunisierten zu heben?

Gute und schlechte Nachrichten

Wie groß die Erleichterung bereits bei einer Durchimpfungsrate von rund 50 Prozent ist, lässt sich gut an Israel zeigen – mit einer der erfreulichsten Grafiken der letzten Wochen und Monate. In Israel hat man vor gut drei Monaten mit dem Impfen begonnen. Und die letzten beiden Monate sanken die Infektionszahlen in allen Altersgruppen um zumindest 80 Prozent:

Das lässt auch für Europa und den Sommer hoffen.

Nicht so gut ist freilich die längerfristige Prognose, die Forschende um Matt Keeling (University of Warwick) für die nächsten Jahre anstellten. Sie rechneten im Fachmagazin "The Lancet Infectious Diseases" vor, wie sich die Pandemie am Beispiel Großbritanniens bis 2024 entwickeln wird. Ihre Modellrechnungen haben ergeben, dass ein komplettes Aufgeben der Maßnahmen zu einem – wenn auch lokal begrenzten – Wiederaufflammen des Infektionsgeschehens führen könnte, selbst wenn ein großer Teil der Bevölkerung geimpft ist. Denn auch der Impfschutz ist nicht 100-prozentig.

Mit anderen Worten: Nach dem Sommer sind zwar keine Lockdowns mehr nötig, aber womöglich doch noch das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes in bestimmten Situationen oder auch Tests.

Pandemie wird Endemie

Global betrachtet gehen die meisten Expertinnen und Experten nicht davon aus, dass in absehbarer Zeit Herdenimmunität gegen Covid-19 erreichbar ist. In einer Umfrage des Fachblatts "Nature" unter 119 Fachleuten aus 23 Ländern hielten es fast 90 Prozent für wahrscheinlich, dass die globale Pandemie zu einer Endemie wird. Mit anderen Worten: Sars-CoV-2 wird mittelfristig weiterhin in Teilen der Weltbevölkerung zirkulieren, vermutlich saisonal wie die Grippe.

Das bedeutet nicht, dass Tod, Krankheit oder soziale Isolation im bisherigen Ausmaß anhalten werden. Ein für besonders wahrscheinlich gehaltenes Szenario geht davon aus, dass Corona zu einer Erkrankung ähnlich der Grippe wird, mit der wir ganz ohne Lockdowns leben. Covid-19 würde also saisonal auftreten, und die Verläufe würden aufgrund der Immunität durch die Impfungen viel leichter ausfallen, als sie es jetzt tun.

Immunevasion als Faktor

Es gibt aber zwei Unbekannte, mit denen diese Prognosen stehen und fallen: Zum einen ist noch unklar, wie lange die Immunität nach Impfungen und Infektionen anhält. Zum anderen wissen wir nicht, wie gut es dem Virus noch gelingen wird, sich durch Mutationen dieser Immunität zu entziehen. Für eine Mehrheit der Fachleute ist dieser absehbare Wettlauf zwischen Mutationen und dagegen wirksamen Impfungen auch der Hauptgrund dafür, dass Covid-19 endemisch wird.

Was das für die Wissenschaft bedeutet, skizzierte kürzlich die britische Genomik-Expertin Sharon Peacock. Sie leitet das britische Programm zur Sequenzierung von Coronavirus-Proben, das rund die Hälfte aller Sars-CoV-2-Proben weltweit analysierte. Laut den Prognosen der Forscherin werden Varianten von Sars-CoV-2 auch noch 2030 sequenziert werden müssen, um neue Impfstoffe gegen die Mutanten zu entwickeln. Und für uns würde das bedeuten, dass wir – ähnlich wie bei Grippe – angepasste Auffrischungsimpfungen bekommen könnten.

Außer der sehr unwahrscheinliche Fall einer globalen Herdenimmunität tritt irgendwann doch ein. Am 14. Juli 2021 ist in der EU aber eher noch nicht damit zu rechnen. (Klaus Taschwer, 27.3.2021)