Ganz auf sich allein gestellt in der EU-Hauptstadt Brüssel: Valentin Novopolskij in der Titelrolle des sensiblen Fleischhauers Oleg.

Foto: Mubi

Eine wendige Handkamera will unmittelbare Anteilnahme. Der Zuschauer rückt dicht heran an die Körper, deren Gestik verschmilzt mit den Bewegtbildern. Im Arthouse-Kino wurde dieses Stilmittel über die Jahre schon zu einem Klischee von Authentizität: Wackelig steht einfach für "echt". Doch in Juris Kursietis’ Oleg ist der Kamerastil tatsächlich auch mit der Entstehung des Dramas verwoben. Jede Szene wurde geprobt und dann ausschließlich in einem einzigen Take gedreht. Bogumil Godfrejóws Kamera musste schnell reagieren, ja improvisieren.

Der soghafte, druckvolle Fluss der Bilder, der dabei entsteht, passt gut zur Geschichte von Oleg (Valentin Novopolskij), einem jungen Letten, der nach Belgien kommt, um dort in einer Fleischfabrik zu arbeiten. Ein Arbeitsmigrant also, ohne soziales Netz, dessen Dasein vollkommen auf seine Anstellung ausgerichtet ist. Das Geld gibt’s noch im Kuvert, nach dem Zerlegen der Schweinehälften wird mit Kumpels oft ein Bier getrunken. Er fühle sich wie ein "Alien", sagt Oleg mehrmals, wobei das auch das "Außerirdische" seiner Existenzweise meint: Oleg ist ein Fremder unter Fremden.

TASSE FILM

Kursietis’ zweiter Spielfilm feierte 2019 auf der Quinzaine in Cannes eine vielbeachtete Premiere und ist nun auf der Streamingplattform Mubi angekommen. Wenn man die Lebensbedingungen der osteuropäischen Arbeiter darin sieht, die gemeinsam in engen, containerartigen Behausungen wohnen, denkt man unweigerlich an die Corona-Cluster, die letztes Jahr in mehreren Fleischfabriken aufgetreten sind.

Der lettische Regisseur zeigt die hässliche Kehrseite einer kapitalistischen Exzesswirtschaft, die auch unter EU-Bürgern soziale Hierarchien einzieht. Im europäischen Kino sieht man das in dieser Deutlichkeit eher selten – abgesehen vielleicht von frühen Filmen der Dardenne-Brüder.

Verschärfte Ausbeutung

Für Oleg spitzt sich die Lage noch zu, als es in der Fabrik zu einem Unfall kommt, der fälschlicherweise ihm angelastet wird. Kursietis zeichnet ein Netz aus Abhängigkeiten, das sich immer engmaschiger um seinen Protagonisten legt. Ohne Job ist dieser auf "falsche Freunde" angewiesen, besonders auf den aus Polen stammenden Andrzej (Dawid Ogrodnik, bekannt aus Ida), der sich für ihn einsetzen will – in Wahrheit schart er aber nur eine Gruppe an Männern um sich, die er ohne Bezahlung arbeiten lässt. Ein Möchtegern-Pate eines mafiösen Systems, in dem jedoch nur ein paar Parameter anders eingestellt sind als davor in der Legalität.

Besonders lebhaft gelingt es Oleg, sich dieses Nest um Andrzej auszumalen, der manisch zwischen der Großzügigkeit eines Freundes und eines manipulativen Kriminellen changiert. Wenn mit dem Lieferwagen ein Reh überfahren wird, schießt er es mit der Pistole tot, um es anschließend wie bei den Pfadfindern zu grillen. In der ewigen Baustelle seines Hauses verteilt er gönnerhaft Schlafplätze, zwischendurch wird Game-Fußball gespielt. Latente Gefahr, Unberechenbarkeit erzeugen ein klammes Gefühl. Das "Gefängnis" hat dennoch zugleich den Anschein einer ausgelassenen Männer-WG, Małgosia (Anna Próchniak), Andrzejs Freundin, ist die einzige Frau in der Runde.

Wie ein Unschuldslamm

Olegs Versuche, sich zu behaupten oder gar zu befreien, stehen im Mittelpunkt des Films. Kursietis gesteht seinem Helden aber auch eine spirituelle Seite zu. Ganz zu Beginn, im Prolog, liegt er nackt auf einem zugefrorenen, schneebedeckten See und erinnert sich an eine Geschichte über ein Opfertier, die er als Kind nicht verstanden hat. Nun wird er, der selbst wie ein Unschuldslamm erscheint, einer Feuertaufe unterzogen. Novopolskij spielt Oleg äußerst introvertiert und abwartend, jedoch mit großer Präsenz. Er reagiert eher verhalten auf die Welt und läuft davon, wenn es brenzlig wird. Er ist der zärtlichste Fleischhauer, den man sich ausmalen kann. Doch sein Unrechtsbewusstsein steigert nur die Lust der anderen, ihn auszunützen und zu demütigen.

Kursietis’ offener Inszenierungsstil lässt aber auch Raum für gegenläufige, grimmig komische Energien zu. Einmal schleicht sich Oleg in Brüssel in eine Privatfeier ein, und es kommt mit einer kunstsinnigen Frau dank einer Verwechslung zu einem One-Night-Stand. Doch letztlich ist es ein pessimistischer Befund, den der Film für einen sensiblen Mann wie Oleg an diesem unsolidarischen Ort bereithält. In dieser Stadt ist für ihn kein Platz, ja er erhält noch nicht einmal die Zeit, sich aufzurichten. Und sei es nur für einen Schuss. (Dominik Kamalzadeh, 25.3.2021)