Der Soziologe Wolfgang Gratz sagt in seinem Gastkommentar, dass die Prinzipien des "Guten Regierens" schon lange weitgehend ignoriert wurden.

Während des Zweiten Weltkrieges machte Winston Churchill die erschreckende Entdeckung, dass Singapur einer japanischen Invasion kaum etwas entgegenzusetzen hatte. In seinen Memoiren schreibt er: "Ich hätte es wissen müssen. Meine Berater hätten es wissen müssen, man hätte es mir sagen müssen, und ich hätte fragen müssen." Hieraus leitet die Fachliteratur zum Thema Management von Unerwartetem vier Fragen ab: Warum habe ich es nicht gewusst? Warum haben meine Berater es nicht gewusst? Warum hat es mir niemand gesagt? Warum habe ich nicht gefragt?

Die in Österreichs politischer Folklore fest verankerten vier Fragen haben eine andere Akzentuierung. Sie lauten: Wieso brauchte ich es nicht zu wissen? Wieso konnte ich es nicht wissen? Wen kann ich dafür verantwortlich machen? Wie kann ich die Angelegenheit als nicht vorhersehbar und meine Vorgehensweise als korrekt und alternativlos darstellen?

Für das persönliche politische Fortkommen sind diese Fragen entscheidend. Wer den Umgang mit ihnen perfekt beherrscht, wird hierzulande als politisches Talent eingestuft.

Man hat es frühzeitig gewusst

Um einige wesentliche Beispiele zu bringen: Der Griss-Bericht über das Hypo-Alpe-Adria-Desaster zeigte eine Fülle von mehrjährigen Versäumnissen auch bei politischen Entscheidungsträgern. Die Wahlwiederholung der Bundespräsidentenwahl 2016 musste vor allem aufgrund von Versäumnissen wiederholt werden, die die Wahlbeobachtung der OSZE sechs Jahre vorher thematisiert hatte.

Die "Flüchtlingskrise" 2015/16 war bereits mehrere Monate zuvor vorhersehbar, ohne dass man sich darauf vorbereitet hätte. Die Bundesregierung bildete bereits im Sommer 2015 eine Taskforce, der auch der damalige Außenminister, dessen Ministerium wohl einen Überblick über die Ereignisse im Nahen Osten und auf dem Balkan haben sollte, und nunmehrige Bundeskanzler angehörte. Die Regierung verabsäumte es, geeignete Vorbereitungen zu treffen. Ohne das Engagement der Zivilgesellschaft wären die staatlichen Organe im Herbst 2015 völlig überfordert gewesen.

Flüchtlinge am Grenzübergang Spielfeld, Herbst 2015. So wie auf die Corona-Pandemie hätte sich die Regierung auch auf diese Krise vorbereiten können.
Foto: ELMAR GUBISCH AUSTRIA

All dies gereichte jenen, die die vier Tasten der österreichischen Fragen virtuos zu spielen verstehen, jedenfalls nicht zum Nachteil und in Einzelfällen zu einem deutlichen Vorteil.

Insofern sind die im Ausland mit schmunzelnder Aufmerksamkeit beobachteten Erregungen um einen Ministerialbeamten und dessen Versäumnissen, die Österreich um die rasche Lieferung von Impfdosen gebracht haben sollen, ebenso Teil unseres Alltagskulturguts wie alpenländische Après-Ski-Riten.

Zusätzlich sind zwei spezifische Aspekte unserer Impfstoffbeschaffung erwähnenswert: Es wurde dem Beamten vorgeworfen, er habe heimlich sein eigenes Spiel gespielt. Es waren aber keine Anwürfe zu hören wie: "Wir haben eine ausformulierte, klare Beschaffungsstrategie, die lautet, alles, was wir kriegen können, so rasch wie möglich zu nehmen – whatever it takes." Dazu passt, dass insgesamt im Covid-19-Management der Bundesregierung konsistente und wohldefinierte strategische Grundsätze, wenn überhaupt, nur mit Mühe zu entdecken sind.

Auch ist es in gut aufgestellten Organisationen üblich, wichtige Entscheidungen in definierten Abläufen und mit belastbaren Spielregeln zu treffen und sie nicht der Einzelverantwortung auszuliefern. In Impfangelegenheiten gibt es seit Jänner eine interministerielle Steuerungsgruppe. Es hat aber den Anschein, dass diese im bunten Treiben von in der Linienorganisation Verantwortlichen, Ministerkabinetten, verschiedenen Krisenstäben, Sonderbeauftragten und weiteren Akteuren eher einen Beitrag zur organisierten Verantwortungslosigkeit denn zu geordneten und transparenten Entscheidungsprozessen leistete.

Österreichs Realverfassung

Bei alldem werden die historischen Verdienste des Konzepts der Bürokratie nicht mehr gesehen. Die an Regeln orientierte, nachvollziehbare und mit den Mitteln des Rechtsstaates bekämpfbare Entscheidungsfindung durch unparteiische Beamte bedeutete die Überwindung von nicht an Gesetze gebundene und willkürliche Formen der Herrschaft. In der Realverfassung der Zweiten Republik wurde dieses bürokratische Modell von Beginn an in einer im Vergleich zu entwickelten Demokratien bemerkenswerten Form mit parteipolitischen Zuordnungen der Beamtenschaft bis in die Schulen und Polizeiinspektionen hinein vermengt. Diese Ablenkungen vom Blick auf das große Ganze führten auch dazu, dass konzeptuelle Weiterentwicklungen wie Public Governance in Österreich nicht Fuß fassen.

Die Grundsätze des "Guten Regierens" der EU-Kommission lauten: Offenheit und Transparenz des Vorgehens, Einbeziehung der Anspruchsberechtigten und Betroffenen, Verantwortlichkeit durch klare Aufgabenverteilung, Effektivität als Wirksamkeit der Maßnahmen und deren laufende sorgfältige Überprüfung sowie Kohärenz als gut abgestimmtes, koordiniertes Vorgehen. Diese Prinzipien wurden in Österreich bisher nicht sehr ernst genommen.

Nicht nur bei der Bewältigung von Covid-19 machen sich diese Versäumnisse bemerkbar. Die Auswirkungen der parteipolitischen Verseuchung des BVT in Zusammenhang mit dem Terroranschlag sind hinlänglich bekannt und untersucht worden. Es hat sich gezeigt, dass das Öffentliche in Österreich in wichtigen Teilgebieten zum Basar verkommen ist.

Das lässt die Wählerschaft kalt

Es hat aber nicht den Anschein, dass all dies die politischen Präferenzen der Wähler sonderlich beeinflusst. Es ist einfältig zu erwarten, dass Menschen und somit auch Politiker Verhaltensweisen ändern, mit denen sie erfolgreich sind. Vielleicht besteht eines unserer Probleme darin, dass die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen öffentliche Entäußerungen von den falschen Leuten mit den falschen Argumenten und Mitteln sind.

Es brauchte etwas anderes. Die bisherigen Formen politischen und zivilgesellschaftlichen Engagements, den Rechtsstaat zu verteidigen, den Staat nicht zum parteipolitischen Beutegut werden zu lassen und eine leistungsfähige Organisation des Öffentlichen auch in Zusammenhang mit Gesundheitsfragen zu ermöglichen, waren offenbar nicht ausreichend.

Vielleicht ist dabei etwas mehr an Findigkeit, Kreativität und Engagement möglich. Wir ersparen uns dann hoffentlich Fragen wie: Habt ihr das nicht gewusst? Habt ihr dazu geschwiegen? Habt ihr nichts dagegen unternommen? Was waren eure Beiträge, das fragwürdige Spiel am Laufen zu halten? (Wolfgang Gratz, 25.3.2021)