Teure Toten als Exportgut: Helfer verladen in den Märztagen 2020 die sterblichen Überreste von Corona-Opfern aus der Region Bergamo.

Foto: Fasani/epa

Das Covid-19-Virus zeigt keinerlei Anstalten, uns zu verlassen. Es hält, ganz im Gegenteil, seine menschlichen Wirtsgesellschaften unverändert fest im Würgegriff. Corona zwingt auch solche Regierungen, die autoritärer Anwandlungen unverdächtig sind, zu sturem Nachdruck. Festzuhalten bleibt an einem Krisenmodus, der ausnahmslos alle Bürgerinnen, alle Bürger an der Ausübung ihrer Freiheitsrechte hindert.

Nicht nur aufgrund seiner Mutationen dürfte das Virus gleich mehrere Sendungsaufträge verfolgen. Ein wesentlicher besteht darin, Italiens Starphilosophen Giorgio Agamben (78) zu seinem Recht zu verhelfen. Wenn man Agamben in seiner Rolle als Polemiker trauen darf. Seine wild umstrittenen Corona-Interventionen lassen sich jetzt gesammelt auf Deutsch nachlesen: unter dem naturgemäß unheilvollen Titel "An welchem Punkt stehen wir?". Einige von ihnen sind bereits kurz nach Pandemiebeginn in der "NZZ" erschienen. Zu anderer Gelegenheit ließ sich der Autor des bioethischen Klassikers "Homo Sacer" z.B. im schwedischen Radio interviewen.

Seit dem europäischen Erstauftritt des Virus Anfang 2020 sieht Agamben ein wiederholt skizziertes Horrorszenario verwirklicht. Das, was der rechts-rechte Staatsrechtler Carl Schmitt einst als den "Ausnahmezustand" bezeichnete, bilde, so Agamben, den Betriebsmodus unserer nur mehr dem Schein nach demokratischen Gesellschaften.

Diese bekämpfen die Pandemie dadurch, dass sie die Körper ihrer Bürgerinnen und Bürger einer allgemeinen, lückenlosen Gesundheitspflicht unterwerfen. Die "Große Transformation" setzt Verfassungsgarantien außer Kraft. Sie überträgt die Legislativgewalt auf die Regierungen und erzwingt einen schleichenden "linguistic turn".

Dreierlei Religionen

Seit Corona habe die Wissenschaft – in Form der Medizin – die beiden übrigen modernen Religionsformen aus dem Feld geschlagen: den Kapitalismus und das Christentum. So sagt es wenigstens Agamben. Doch für den Denker des "nackten Lebens", der um die Würde der Menschen fürchtet, fungiert das Virus als eine Art Brandbeschleuniger.

Während nämlich das gesamte Leben zum Ort einer "ununterbrochenen Kultfeier" werde, dem der "heiligen" Gesundheit, verliere die Menschheit ihre Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung. Sie wird daran gehindert, konzertiert zu handeln. Bürger verlernen, sich politisch zu assoziieren und bei anderen in die Lehre zu gehen – Agamben weist mit Grabesstimme auf den Zwang zur universitären Fernlehre hin. Der Götzendienst am Leib? Macht aus uns willenlose Haustiere.

Neue Diktatur?

Verwirklicht werde dagegen die "neue telematische Diktatur". Digitalität gilt dem besorgten Philosophen als "technologische Barbarei", die jede sinnliche Erfahrung aus dem Leben verbannt. Dagegen würde der menschliche Blick dauerhaft eingesperrt in einem "gespenstischen Bildschirm". Zoom-Konferenzen mit Professor Agamben? Müssen zutiefst verstörende Séancen sein.

Und doch lassen sich Agambens Einwürfe, so gesucht elitär sie im Einzelnen wirken, nicht einfach widerlegen. Der ihn umtreibende Verdacht: Längst bildet der Ausnahmezustand in unseren Demokratien nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Eine Gesellschaft jedoch, die sich um der Lebenserhaltung willen versklaven lässt, hat ihre Selbstachtung verloren. Nicht nur die Weigerung, die vielen Toten (wie in Bergamo passiert) anständig zu beerdigen, erregt Agambens Abscheu. Die Pandemie nötigt die neuartig ausgerichtete Gesellschaft zum Offenbarungseid. Sie glaubt sich dauerhaft notgeboren, und sie gebärdet sich darum umso barbarischer.

Es ist das Versammlungsverbot, das den inneren Kern jener Schreckensherrschaft bildet. Sie malt Agamben in finsteren Pestfarben. Die Fernkommunikation der pandemisch Isolierten stelle die von Elias Canetti entworfene Massenlehre (aus "Masse und Macht") gewissermaßen auf den Kopf.

Der Zwang zur sozialen Distanzierung? Hält die Menschen auseinander. Doch darum entfalten die Vereinzelten noch keine Individualität. Im Gegenteil: Als nicht mehr dichte, sondern verdünnte Masse erlegen sich die vielen Einzelnen das Verbot aus freien Stücken auf. Agamben: "Eine Gemeinschaft, die sich auf Social Distancing gründet, kann niemals (…) mit einem auf die Spitze getriebenen Individualismus zu tun haben." Eine Masse, die sich von oben ihre Zerstreuung anschaffen lässt, ist ebenso kompakt, wie sie letztlich in Passivität verharrt.

Am Grund einer solchen sozialphilosophischen Corona-Kritik lauert das Unbehagen. Was, wenn dieser strengste aller Gegenwartsdenker im Kern recht behielte? Es ist vielleicht nicht allein die Demokratie, die unter viralem Dauerstress eine Metamorphose erlebt. Vielleicht gehen am Ende die meisten von uns sogar an Herz und Nieren gesund aus der Krise hervor. Und sind am Ende doch: als demokratiepolitische Wesen rettungslos beschädigt. Ohne doch jemals stumpfe Corona-Leugner gewesen zu sein. (Ronald Pohl, 26.3.2021)