Müdigkeit als Weg: Hier das Selbstporträt "Gähnen" von Joseph Ducreux, 1783.

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James Brown sang einst davon, dass der Mensch die Glühbirne erfand, um uns aus dem Dunkel zu holen. Der gute Mann konnte in den 1960er-Jahren nicht ahnen, wie sehr wir die finstere Nacht noch einmal vermissen werden. Der US-Psychologe Stanley Coren ortet in seiner Studie Die unausgeschlafene Gesellschaft jedenfalls ein wesentliches Übel in der Glühbirne. Sie mache die Nacht zum Tag und möglichst wenig Schlaf wegen Arbeit oder Party zur gemeingefährlichen Ideologie. Stichwort: innere Unruhe.

Heute sprechen wir vom "blauen Licht", das uns 24 Stunden lang von den Bildschirmen im unermüdlichen Drang nach unser aller Selbstoptimierung befeuert und unsere Erholungsphasen raubt. Wir dürfen nicht schlafen. Wer schläft, bleibt zurück. Schlafentzug gilt nicht umsonst als beliebte Foltermethode. Die Rede ist von einem das Leben dramatisch beeinflussenden Faktor. Der führte uns einst zwar ans Licht. Wenn man sich aber den Verlust an Lebensqualität vor Augen führt, wird es ganz schnell wieder finster.

Wir sind dank diverser Aufmerksamkeitstechnologien wie Fernsehen oder Internet dauernd alert. Das macht uns unendlich müde. Powernaps oder polyphasischer Schlaf oder "Klartraumtechniken", mit denen man noch in den Ruhephasen Leistungssteigerung erzielen will, sie bringen uns in die Nähe von bis zum erschöpfungsbedingten Selbstmord "für das Leben lernenden" südkoreanischen Maturanten.

Kein Sofa in Sicht

Die Frühjahrsmüdigkeit, mit der man früher den Übergang vom Winterschlaf zum Aufbruch in ein neues Jahr draußen im Leben erklärte und die man durch Bewegung, gesundes Essen, Zwangsyoga oder positives Denken zu relativieren versuchte, ist einem Zustand der dauernden Erschöpfung gewichen, körperlich wie geistig. Wer alles will, bei dem geht bald gar nichts mehr. Daran können auch Tageslichtlampen oder Vitamin D nichts ändern. Wir hängen, so raunt es uns heute von allen Seiten entgegen, tatsächlich existenziell in den Seilen. Kein Sofa in Sicht.

Der Philosoph Byung-Chul Han hat das Phänomen schon 2010, weit vor den frisch dazugekommenen pandemischen Auswirkungen unserer Zeit, in seinem Bestseller Müdigkeitsgesellschaft festgehalten: "Wir leben heute nicht mehr in einer Disziplinargesellschaft, die vom Verbot oder von Befehlen beherrscht ist, sondern in einer Leistungsgesellschaft, die angeblich frei ist, die vom Können, yes we can, bestimmt ist, aber dieses Können erzeugt nur am Anfang ein Gefühl von Freiheit, bald erzeugt es mehr Zwänge als ‚du sollst‘, man wähnt sich in Freiheit, aber in Wirklichkeit beutet man sich freiwillig und leidenschaftlich aus, bis man zusammenbricht."

Von der Infektion zum Infarkt

Interessant dabei: Han behauptete damals, dass wir das "virale Zeitalter" hinter uns gelassen hätten. Wir seien längst immun gegen äußere Zwänge. Wir würden unter der Diktatur von Smileys und Likes in der selbstauferlegten Regulierung von Social Media von nun an unserem eigenen Druck, alles besser machen zu müssen, in die Depression und vor allem auch in die Erschöpfung und Müdigkeit getrieben werden. Kurz gesagt, von dieser zwingenden "Infektion" von außen zum leistungsbedingten "Infarkt" von innen war der Übergang geschafft. Die "Gefälligkeitskultur", der man sich als Ego-Shooter verpflichtet fühlt, ersetzte den gesellschaftlichen Zwang der Optimierung. Morgens, mittags, nachts am Computer: "Yes we can!"

Ein Lockdown verschafft keine Ruhepause. Wenn nichts mehr geht, werden wir auf uns selbst zurückgeworfen. Das erzeugt Stress. Der Bruder der Müdigkeit ist der Stress. Stress führt zu Burn-out. Müdigkeit könnte im besten Fall zur Gelassenheit führen. Nachdem wir dank Antibiotika laut Byung-Chul Han allerdings das bakteriologische Zeitalter und den von außen in Form von Viren und Bakterien in unsere Körper eindringend wollenden Feind hinter uns gelassen hatten, traten wir spätestens im 21. Jahrhundert in die neuronale Epoche ein. Der Feind, das sind wir. Trotz Corona lauten die Leitkrankheiten unserer Zeit: Depression, Burn-out, Borderline, ADHS. Wer möchte da nicht dagegenhalten: Positiv denken, Disziplin, Selbstverantwortung! Der Depressive sagt deshalb nicht "Alles ist möglich!", er sagt "Nichts geht mehr!".

2010 schloss Byung-Chul Han die Müdigkeitsgesellschaft mit dem Prinzip Hoffnung und Peter Handkes Versuch über die Müdigkeit. Müdigkeit als utopischer Zustand habe nicht nur mit depressiver Erschöpfung zu tun. Handke sieht sie als einen passiven Akt des Seinlassens, der eine "tiefe Freundlichkeit stiftet". Müdigkeit mache uns alle locker, sie setzt Endorphine frei. Die machen glücklich: "Die Inspiration der Müdigkeit sagt weniger, was zu tun ist, aber was gelassen werden kann." Müdigkeit als Erlösung. Aber machen Sie das einmal den Leuten in der Firma klar. Die werden höchstens wüde oder mütend. (Christian Schachinger, 26.3.2021)