Brasilien trauert um zahlreiche Tote.

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Die Eingänge zu den Stränden im Bundesstaat São Paulo sind mit Zäunen versperrt. In Rio de Janeiro patrouilliert die Bundespolizei vor den Stränden von Copacabana und Ipanema. Noch vor einer Woche lagen hier die Menschen dicht an dicht, so als ob die Pandemie vorbei wäre. Endlich, und doch viel zu spät, haben sich die Gouverneure der Bundesstaaten zu drastischen Lockdown-Maßnahmen entschlossen. Brasilien erlebt die schlimmsten Tage seit Ausbruch der Pandemie. Täglich sterben mehr als 3000 Menschen an den Folgen einer Corona-Infektion. Das südamerikanische Land hat gerade die Zahl von 300.000 Corona-Toten überschritten.

Brasilien ist zu einem gefährlichen Epizentrum der Pandemie und zur globalen Bedrohung geworden. Das Land verzeichnet rund elf Prozent aller weltweiten Corona-Toten, während es nur 2,7 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht. Die Mutante P.1, die erstmals in der Amazonas-Metropole Manaus auftauchte, hat sich inzwischen auf ganz Brasilien und die Nachbarländer ausgebreitet.

Um bis zu 150 Prozent ansteckender

Seit Anfang März macht sie rund die Hälfte der Neuinfektionen aus, wie das Forschungsinstitut Fiocruz mitteilte. Laut einer Studie soll sie um bis zu 150 Prozent ansteckender sein als die Ursprungsvariante von Corona. "Wir müssen bedenken, dass Viren extrem anpassungsfähig sind", sagte Alexandre Barbosa, Virologe an der Universität von São Paulo (USP). Impfen sei richtig, aber nicht die endgültige Antwort. "Denn wir haben es immer noch mit einem Virus zu tun, das wir nicht gut kennen und das Mutationen aufweist, die zum Verlust der Wirksamkeit des Impfstoffs führen können."

Zu wenige Medikamente

Die Intensivstationen in Brasilien sind überfüllt, in den Krankenhäusern gibt es Wartelisten, um Patienten in andere Spitäler zu bringen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, den viele Patienten verlieren. Es fehlt an Sauerstoff und an Medikamenten, die zur Sedierung der zu Beatmenden wichtig sind. In den sozialen Medien senden abgekämpfte Ärzte und Krankenschwestern immer neue Hilferufe: "Das Wasser steht uns bis zum Hals", sagt Nassara Levin, eine Infektiologin in São Paulo.

Die unkontrollierte Ausbreitung des Virus setzt auch Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro unter Druck. In einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datafolha machen rund 44 Prozent der Brasilianer sein Missmanagement für die nationale Tragödie verantwortlich. Es ist daher nicht die späte Einsicht, sondern es sind seine sinkenden Popularitätswerte, die den Rechtspopulisten einen moderateren Ton anschlagen lassen.

DER STANDARD

Bolsonaro gegen Schutzmaßnahmen

Während er seit einem Jahr die Pandemie als "kleine Grippe" verharmlost und die Gouverneure wegen der verhängten Schutzmaßnahmen als "Feiglinge" und "Tyrannen" beschimpft, will Bolsonaro nun den Impfturbo anwerfen. "2021 wird das Jahr des Impfens", verkündete er in einer TV-Ansprache. Der Meinungswechsel kam schnell: Noch Ende Dezember hatte er eine Impfung für sich ausgeschlossen. Schutzmaßnahmen lehnt Bolsonaro aber weiterhin ab. Den von den Gouverneuren verhängten Lockdown wollte er gerichtlich verbieten lassen, unterlag aber.

Es ist der vorgezogene Wahlkampf, der Bolsonaro vermeintlich einlenken lässt. Seit Anfang März ist sein Erzfeind, Ex-Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva, zurück auf der politischen Bühne. Ein Bundesrichter hatte die Urteile gegen den Linkspolitiker wegen Korruption und Geldwäsche aufgehoben. Damit könnte der 75-Jährige bei den Präsidentschaftswahlen 2022 antreten. Lula machte Bolsonaro für einen Genozid in Brasilien verantwortlich. Viele der Toten hätten verhindert werden können, sagte er vor Gewerkschaftern. "Folgt nicht den schwachsinnigen Entscheidungen des Präsidenten, lasst euch impfen", rief er ihnen zu. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 25.3.2021)