Puchner auf dem Hochsitz mit Weitblick: "Es liegt an uns, das scheinbar freie Wachsen der Natur nicht zu zerstören, mehr noch, es zu schützen."

Foto: Willy Puchner

STANDARD: Was ist für Sie "Natur"?

Willy Puchner: Ich beschäftige mich schon über viele Jahre mit Natur, so als wäre sie eine andere Welt. Ich betrachte Pflanzen, Tiere, zeichne und fotografiere sie, sammle Fundstücke und sehe mich als Teil der Natur. Ich weiß nicht, wo Natur beginnt und wo sie endet. Je mehr ich mich auf das Thema eingelassen habe, umso vielfältiger wurden die Motive. Die Triebfeder war das Gefühl, dass die Natur irgendwo auf meinem Weg verlorengegangen ist, so als wäre ein Eiswürfel in meiner Hand geschmolzen. Uns allen erscheint Natur als etwas Selbstverständliches: ein Waldspaziergang, ein Strauß Blumen, der Besuch im Zoo, das Streicheln einer Katze, der Blick aufs Meer. Wie vieles in meinem Leben ist auch diese Beschäftigung mit Natur von starker Sehnsucht geprägt, von dem Wunsch nach Erkenntnis, Ruhe und Ausgeglichenheit. Wir wissen, dass die glücklichen Momente wenige sind, jedoch bei der Beschäftigung mit dem Thema Natur hat Langsamkeit und Zeit immer eine große Rolle gespielt. Bedächtig und schrittweise bin ich in meinen Notizen und Bildern verschwunden, die Konzentration darauf hat mich zeitweise etwas traurig gemacht. Zu sehr spüre ich, dass der Mensch möglicherweise an einem Kipppunkt angelangt ist, dass die Erde bedroht ist, dass wir handeln müssen. Und doch will ich, dass meine Arbeit eine Art aufmerksamer Zeitvertreib ist, eine Suche nach den Spuren in der Natur und in der Literatur, genau genommen ein konsequentes Spiel mit Zufall, Absicht und unersättlicher Neugier.

STANDARD: Ihre Bilder verbinden das Große und das Kleine, das in der Natur zu entdecken ist. Wie kann man Wahrnehmung lernen?

Puchner: Wir lernen vor allem dann, wenn wir für das Draußen offen sind, wenn wir wissbegierig sind und nicht in vorgefertigten, sicheren Bahnen bleiben, wenn wir uns eine gewisse Unschuld und Naivität erhalten, wenn wir immer wieder Fragen zulassen. Auch wenn die Diskussion um die Erhaltung der Natur als Wahrnehmung des Großen sehr wichtig ist, war ich oft unterwegs, um kleine Dinge zu entdecken. War doch darin ein Zauber enthalten, der schon durch die Namen animiert wurde: Fettehennen. Glockenblumen. Teufelskrallen. Engelstrompeten. Schmucklilien. Feuerbohnen. Zaubernuss. Blauregen. Storchschnabel. Tränenkiefer. Gartenwolfsmilch. Vergissmeinnicht. Es gibt viele Wege, das Winzige und das Große wahrzunehmen, zu entdecken, so wie es im Moment viele Augenblicke gibt, das kleine Glück zuzulassen.

STANDARD: Sehen Sie Natur und Kultur als Gegensatz?

Puchner: Lange Zeit galten Natur und Kultur als Gegensätze, weil man angenommen hat, dass die Natur scheinbar von selbst wächst, reift, blüht und verwelkt, ohne Zutun des Menschen, während die Kultur etwas vom Menschen Geschaffenes ist. Da aber Natur und Kultur eng miteinander verbunden sind und ich so wie wir alle Teil der Natur sind, ist es passender, sie als eine Art Symbiose zu sehen, als etwas gegenseitig Durchwebtes. Darum liegt es an uns, das scheinbar freie Wachsen der Natur nicht zu zerstören, mehr noch, es zu schützen. Letztlich ist es die einzige Rettung unseres Planeten, auch die Rettung von uns Menschen. Der Satz in der Bibel "Macht euch die Erde untertan!", genauer gesagt, "Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!" muss heute – im Zeitalter des Anthropozäns – anders gesehen werden, weil wir die Erde zum Überleben brauchen. Wir brauchen daher ein anderes Bewusstsein. Ich habe ein kleines Projekt mit dem Titel "Die Natur ist meine Göttin" begonnen. Indem ich die Natur verehre, huldige, will ich sie mir selbst vorführen, immer wieder wahrhaben. Und weil ich Natur über alles liebe und nicht von ihr getrennt bin, habe ich auch die Chance, mich selbst mehr anzunehmen, zu schätzen, vielleicht sogar zu lieben. So gesehen kann ich die Natur auch als meine Lehrmeisterin sehen, erinnert sie mich auch daran, dass die Welt nicht mehr als getrennte Teile zu betrachten ist, sondern ein einziges, nichtzerlegbares Ganzes.

STANDARD: Der Mensch scheint maximal, wenn überhaupt, eine Randfigur in Ihren Bildern zu sein. Welche Rolle spielt für Sie der Mensch im Hinblick auf die Natur?

Puchner: In diesem Fall muss ich zwischen meinen fotografierten und gezeichneten Bildern unterscheiden. Bei meinen Fotoprojekten über Randgruppen, alte Menschen, Bilder aus dem Dorf in diversen Reportagen steht der Mensch immer im Mittelpunkt. Bei meinen Zeichnungen ist er auf eine gewisse Art und Weise verschlüsselt. Da tritt er als Figur in Form von Fantasiewesen auf, egal in welchen Räumen auch immer. Das kann eine Landschaft sein, ein Naturraum oder auch ein Innenraum. Indem diese Figuren etwas sagen, erzählen, erinnert das an Gedanken, die auch Menschen aussprechen könnten. Bei meiner Lektüre sammle ich sehr gerne Zitate. Ich habe leere Bücher mit ihnen vollgeschrieben, habe sie geordnet, kategorisiert, lese sie immer wieder, nachdem ich ein Buch fertiggelesen habe. So werden sie für mich zu einer verdichteten Essenz eines langen Textes, sind Konzentrat bzw. Material, mit dem ich weiterarbeiten kann. In meinen Bildern üben Zitate einen besonderen Einfluss aus. Oft lasse ich ein Tier oder besser gesagt eine Figur – erweitert mit Sprechblasen –, etwas sagen, das ein "Mensch" geschrieben hat, den ich sehr schätze.

STANDARD: Kann man Natur also auch lesend entdecken und erkunden?

Puchner: Ich denke, als Anregung oder Impuls kann man Natur auch lesend entdecken. Jedoch erst durchs Erkunden, das heißt, durchs Gehen wird sie erlebbar. Ein gemächliches Gehen mit gelegentlichem Innehalten. So als würde ich durch Feld und Wald oder am Meer entlang flanieren. Ich schaue, rieche, höre oder berühre ein Stück Natur. Dabei erinnere ich mich an ein eindringliches Zitat von Johann Wolfgang von Goethe: "Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte der Vernunft ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben und ihre Verhältnisse offenbart, sodass ein Blinder, dem das unendlich Sichtbare versagt ist, im Hörbaren ein unendlich Lebendiges fassen kann." Wenn ich das lese, bewegt es mich, und ich denke, was alles noch mehr zu empfinden ist, wenn man die Augen öffnet.

STANDARD: Birgt die Ästhetisierung der Natur durch Literatur und Kunst auch eine Gefahr?

Puchner: Ästhetisierung an sich birgt eine Gefahr, weil sie keinen realen Blick auf die Welt darstellt, eine Stimmung vortäuscht und uns verleitet, in eine Welt zu flüchten, die nicht der Wirklichkeit entspricht, uns paralysiert, vielleicht auch schwächt, zu kämpfen. Und doch habe ich ein großes Bedürfnis nach Schönheit, und es obliegt uns, wie tolerant wir dem Mitmenschen in Bezug auf seine ästhetischen Vorstellungen gegenüber sind, vor allem dann, wenn er einen anderen Geschmack und ein anderes Kunstverständnis hat. Ich liebe auf meine Art das Schöne, das oft auch zweideutig ist, eine beschwingte Ironie aufweist und Aspekte des Dunklen zeigen kann. Auch wenn ich es nicht ganz für meine Arbeit übernehmen kann, mag ich das, was die Fotografin Julia Margaret Cameron gesagt hat: "Ich sehnte mich danach, alle Schönheit, die mir vor Augen kam, festzuhalten, und schließlich ist diese Sehnsucht befriedigt worden."

"Der Homo sapiens sapiens ist die Krone der Schöpfung!": Willy Puchner betrachtet Menschen, Tiere – die Natur.
Illustration: Willy Puchner

STANDARD: Unser Naturbild ist oftmals ein romantisierendes. Trotzdem bauen wir Häuser, Straßen, Einkaufscenter ohne Ende. Sehen Sie die Möglichkeit einer Gegenbewegung?

Puchner: Ich wünsche mir eine Gegenbewegung, sehe sie nur am Rande, sehe Menschen, die nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten handeln, den sogenannten Homo oeconomicus, dem der persönliche Profit wichtig ist, und dies bei der Herstellung, dem Verkauf und der Verteilung von Gütern durchzieht. Im Kleinen, also was mich persönlich betrifft, steuere ich ein wenig dagegen. Ich versuche mich nicht von der Wegwerfgesellschaft verführen zu lassen, kaufe Waren in Secondhand-Geschäften oder auch auf Flohmärkten, bekomme immer wieder geschenkt, was andere wegwerfen, versuche Gegenstände, die kaputt sind, zu reparieren. Es freut mich, wenn es mir gelingt, es gibt mir das Gefühl, auf meine Art entgegenzusteuern.

STANDARD: Heute sind Öko-Socken GOTS-zertifiziert und aus fair gehandelter Biobaumwolle. Das spiegelt auch einen Wandel des Begriffs der Nachhaltigkeit wider. Was assoziieren Sie mit Nachhaltigkeit?

Puchner: Der Global Organic Textile Standard ist ein weltweit angewendeter Standard für die Verarbeitung von Textilien. Fairtrade findet sich ja nicht nur bei Kleidung, du kannst die unterschiedlichsten Produkte mit einem Fairtrade-Siegel kaufen, vor allem im Bereich von Nahrungsmitteln, Getränken und Pflanzen. Im Grunde hat die Bekämpfung der Armut, der Ungleichheit etwas Nachhaltiges. In dem ich mit anderen teile, etwas weitergebe, bin ich in einem geringen Ausmaß gerecht, und wenn es viele tun, ist das Ausmaß etwas größer. Im Grunde kann man auch nachhaltig agieren, wenn man in kleinen Geschäften einkauft und nicht bei großen Konzernen, denn auch hier kann man beim Überleben der Schwächeren mithelfen.

STANDARD: Willys Wunderwelt lautet der Titel eines Ihrer neuesten Bücher. Ist Fantasie ein Mittel des Eskapismus oder zur Weltrettung?

Puchner: Willys Wunderwelt geht davon aus, dass die Welt unterschiedliche Zugänge hat. Mal sind die Wunder groß wie die Dinosaurier oder das Universum, und mal scheinen sie auf den ersten Blick klein und bescheiden wie winzige schillernde Käfer zu sein. Dann wieder wird ein fulminantes Fest gefeiert, oder ich bin mit einem Zirkus unterwegs. Im Grunde sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. In meiner Welt leben viele fantastische Figuren, Wesen der besonderen Art. Alle hatten zu gegebener Zeit ihre Wichtigkeit. Vor allem sind es Tiere, wilde, aber auch zahme, winzige, riesengroße, aber auch solche, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Im Lauf der Zeit waren es immer wieder andere, die mir wichtig waren. Ob das nun die reisenden Pinguine waren, die unermüdlichen Kamele, die verliebten roten Hasen, die Vogelprinzessinnen, Lurche, Frösche oder Kriechtiere. Und immer wieder Vögel, die mich schon eine Ewigkeit begleiten. Nicht nur auf meinem Schreibtisch stehen kleine Objekte, die Wohnung ist genau genommen voll wie eine Wunderkammer mit unzähligen Kuriositäten. Es stellt sich nicht die Frage, ob ich vor der Realität flüchte, auch nicht die Frage, ob ich die Welt retten möchte. Vielmehr ist es der Wunsch, mein inneres Kind über all die Jahre zu bewahren.

Illustration: Willy Puchner

STANDARD: Wenn wir über das Anthropozän sprechen, müssten wir von Kipppunkten im Klimasystem und Greta Thunbergs Wunsch "Ich will, dass ihr in Panik geratet" reden. Aber könnte das Anthropozän nicht auch die Chance sein, die Welt neu zu entdecken, uns als Teil der Natur zu erleben, Zeit und Raum neu wahrzunehmen? Welche Farben hat das Anthropozän?

Puchner: Wenn ich an die Farben des Anthropozäns denke, fallen mir keine schönen oder angenehmen Farben ein, da denke ich an Farben, die dieses Erdzeitalter auf eine gewisse Art und Weise präsentieren, Farben, die wie dunkle Zeichen über uns schweben, Farben, die Gedanken evozieren, die mit kleinen oder größeren Katastrophen einhergehen: Aluminiumsilberweiß, Aerosolgrau, Betonmonoton, Emissionsgrau, Erdölbraun, Flugaschengrau, Hühnerknochenbraun, Kohlendioxidluzid, Kerosinweiß, Korallenrot, Kunststoffgelb, Methanblau, Ozonblau, Phosphatweiß, Plastikrot und Plutoniumgrau. – Wenn ich jedoch an eine Palette von Farben denke, bei denen ich Natur auf positive Art entdecke und erlebe, die Welt und die Zukunft nicht als ausweglos empfinde, dann denke ich an Farben wie zum Beispiel Erdbraun, Frühlingsgelb, Gipfelweiß, Grasgrün, Haselnussbraun, Heidelbeerblau, Herbstrot, Himmelblau, Meerestürkis, Moosgrün, Pfifferlinggelb, Savannenbraun, Sommergrün, Sonnenrot, Strandgelb, Vogelgrau, Wüstengelb und Waldgrün. Auch wenn die Lage katastrophal scheint, ist sie nicht aussichtslos. (Carmen Sippl, ALBUM, 27.3.20221)