Nußbaumeders erstem Roman sieht man nichts vom Debüt an.

Foto: Philip Brunnader

Es gibt "die oben" und "die unten", und es gibt die soziale Regel: "Ein Knecht zeugt immer nur einen Knecht." Aber spätestens im 20. Jahrhundert müsste sich dieses Gesetz durchbrechen lassen, und sei es durch Raffinesse, zu der einen das Schicksal verleitet. Man kann auch Lüge sagen, durch sie wird alles Nachfolgende bestimmt.

So jedenfalls könnte man Christoph Nußbaumeders über ein Jahrhundert und fünf Generationen reichenden Roman Die Unverhofften zusammenfassen. Ein Deutschland-Roman wohl auch, obwohl die so spezifische deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht direkt die Handlung bestimmt, die läuft lediglich im Hintergrund.

Auf alle Fälle ein süddeutsches Familienepos, verortet in dem fiktiven Ort Eisenstein an der bayerisch-böhmischen Grenze, wo seit jeher die Glashütten und der Wald das Leben bestimmen.

Glasfürsten

Die Hufnagels sind so eine Glaserzeugerdynastie, "Glasfürsten" und Großgrundbesitzer, denen nicht nur der Wald und eine Glasfabrik gehören, paternalistisch haben sie auch die Hand auf ihren Untergebenen. Doch um 1900, als der Roman startet, verliert dieses System seine Selbstverständlichkeit.

Die Arbeiter begehren auf, fordern bessere Löhne und eine kürzere Arbeitswoche, freilich sitzt ihr Arbeitgeber, Siegmund Hufnagel, immer noch am längeren Ast und nimmt sich, was er haben will. Zum Beispiel Maria, die als "Mädchen für alles" im Herrenhaus arbeitet. Sie wird vom Gutsherrn vergewaltigt, die Arbeiter, die nur eigene Interessen im Kopf haben, lassen sie im Stich. Maria, die nach Amerika auswandern wollte, fühlt sich von den "Dörflern" verraten, sie rächt sich und zündet die Fabrik an, mit der Glaserzeugung ist es in Eisenstein vorbei.

Chance auf sozialen Aufstieg

Erst 1945, eine Generation später, findet die Geschichte ihre Fortsetzung, als Marias Tochter Erna auf den Plan tritt: Sie flüchtet zu Kriegsende aus Eger und läuft nachts im Wald einem ehemaligen KZ-Häftling über den Weg. Die Begegnung bleibt nicht ohne Folgen, es ist quasi der Zeugungsakt in der Stunde null, am selben Tag erschießt sich Hitler in seinem Bunker in Berlin.

Erna landet als Magd auf dem Gut der Hufnagels, die nun ein Sägewerk betreiben, dort bringt sie neun Monate später ihren Sohn Georg zur Welt. Josef Hufnagel, Siegmunds Sohn, der nunmehrige Gutsherr, macht es nicht anders als sein Vater, und da er sich gleich von Anbeginn an über Erna hergemacht hat, fällt es dieser nicht schwer, ihn glauben zu lassen, er sei der heimliche Vater.

Diese List ist die einzige Chance auf sozialen Aufstieg. Georg, der vermeintliche illegitime Hufnagel, übernimmt später das Sägewerk, bis er schließlich sein eigenes Firmenimperium gründet, erst im Baugewerbe, dann in der Immobilienbranche immer erfolgreicher wird und nicht zuletzt mit Spekulationsgeschäften an der Börse ein Vermögen macht. So weit, so gut? Keinesfalls.

Denn Ernas List damals hat ungeahnte Auswirkungen, die den weiteren Roman bestimmen, ihm nicht nur Struktur geben, sondern auch für Spannung sorgen – und spannend ist dieser Roman in jedem seiner sieben "Bücher", die von 1899 bis 2019 ein eindrückliches Zeitbild erstehen lassen.

Liebe, Schuld, Verletzungen

Nun geht es hier zwar ständig um Familien- und Unternehmensgründung, doch das eigentliche Geschehen läuft auf der zwischenmenschlichen Ebene, auf der sich, was einmal so begonnen hat, mit unerbittlicher Konsequenz fortsetzt: Von nun an, zu allen Zeiten, verflechten sich nicht nur die Beziehungen zwischen oben und unten.

Ein wenig mag man dabei an die Buddenbrooks denken, auch wenn das mit der Familiendynastie hier anders aussieht, zwar ebenso über Zeitbrüche hinweg, alles ist im Wandel, die Lebensentwürfe verändern sich mit den Generationen, die Figuren haben ihre zeittypischen und milieubedingten Biografien, vom Beginn der Arbeiterbewegung über den Wirtschaftsaufstieg der BRD bis zu dem, was sich New Economy nennt, samt den daraus resultierenden Verwerfungen. Aber all das ist von den familiären Konflikten, der eigentlichen Romanoberfläche, überlagert und lediglich eine richtungweisende Folie.

Denn vielmehr als um sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg und sich dadurch auftuende Abgründe geht es um Liebe, Schuld und Verletzungen, und weil nichts in dem Roman ohne Folgen bleibt, setzt sich das in den nächsten Generationen fort, ohne dass diese noch etwas ändern könnten.

Schweigen und Schuld

Bezeichnend heißt es einmal, "über das Dunkle ist zu schweigen", und gerade das Schweigen nährt die Schuld. So ist bald klar, dass der gesellschaftliche Erfolg nicht den moralischen Aufstieg bedeutet, das Leben der dritten Generation gerät immer mehr zum emotionalen Desaster, schlussendlich zur griechischen Tragödie – man könnte geradezu von klassischer Urschuld sprechen, die sich nicht mehr auflösen lässt.

Das alles wäre zweifellos auch ein idealer Filmstoff und ergäbe einen Mehrteiler – kein Wunder, ist der Autor doch bisher als Dramatiker erfolgreich gewesen. Die Unverhofften ist sein erster Roman, dem man nichts von einem Debüt ansieht: souverän erzählt, fast schmucklos. Vor allem kommt er ganz ohne laute Töne aus, und dennoch prägen sich einem die Figuren ein, das Erzählte ist immer plastisch. Einfach überzeugend, gekonnt gemacht.(Gerhard Zeillinger, ALBUM, 28.3.2021)