"Es ist für alle, die schreiben, tödlich, an ihr Geschlecht zu denken" Virginia Woolf

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Im Jahr 1921 schrieb Virginia Woolf im Essay Ein Zimmer für sich allein, sie sei überzeugt, dass in hundert Jahren das Sprechen über Frauen und Literatur gänzlich anders aussähe, würden einige Grundbedingungen erfüllt sein: 500 Pfund jährliches Einkommen zur eigenen Verfügung – das entspräche heute in etwa 26.756 Euro, ein mit Vorsicht zu genießender Wert, da er, zöge man auch die Bedingungen des Alltags heran, wie Wohnpreise und Sozialversicherung, weitaus höher liegen müsste.

Einhundert Jahre also, ein eigenes, sicheres Einkommen und ein Zimmer für sich allein – Selbstbestimmtheit, so könnte man es subsumierend nennen. Doch fügt Woolf noch zwei weitere Faktoren hinzu: den Mut zu schreiben, was gedacht werde, und die Gewohnheit der Freiheit. Erst wenn all diese Grundbedingungen erfüllt seien, könne die zeitgenössische Kollegin nicht nur ihre Gedichte verfassen, sondern außerdem auch als Shakespeares "Schwester" im Ahninnen- und Ahnenolymp endlich ihren berechtigten Platz einnehmen.

Beziehung zur wirklichen Welt

Einhundert Jahre – allen guten Mächten sei Dank! Wir haben dafür also noch acht weitere zur Verfügung, denn der Mut und die Gewohnheit stecken ebenso in den Kinderschuhen wie die "500 Pfund"! Als wäre das noch nicht schwierig genug, nennt Woolf als weiteren Faktor ihrer Grundbedingungsliste: die Flucht aus dem gemeinsamen Wohnzimmer – wenigstens "ein wenig", sprich: für die Dauer einer Betrachtung.

Damit wir die Menschen in unserer Umgebung "nicht immer in ihrer Beziehung zueinander, sondern in Beziehung zur Wirklichkeit sehen und den Himmel und die Bäume, oder worum es sich auch handelt, als solche; wenn wir an Miltons Schreckgestalt vorbeischauen, denn kein Mensch sollte die Sicht verstellen; wenn wir der Tatsache ins Auge sehen, dass es keinen Arm gibt, der uns stützt, sondern wir allein unterwegs sind und unsere Beziehung die Beziehung zur wirklichen Welt ist und nicht nur zur Welt der Männer und Frauen."

Wenigstens das, so suggeriert der erste Blick, hat sich erfüllt: Jede für sich, kein stützender Arm, wir stehen auf eigenen Füßen – um durch Einsamkeit in Altersarmut zu wanken. Meinte sie das? Sicherlich nicht! Vielmehr läge Wahrheit darin, dass wir nicht mutig genug waren, neue Wege konsequent zu beschreiten, uns neue gesellschaftliche Formen, die humaner wären, zu erdenken, sie um- und auch durchzusetzen. Halbherzig ist alles um uns.

Abweichend von der Norm

Auf den zweiten Blick steckt aber noch eine andere Botschaft in diesen Zeilen. Während ich noch darüber nachsinne, erreicht mich als Antwort auf meine Zitatsuche zu schreibenden Frauen eine E-Mail meiner Kollegin Antje Rávik Strubel: "Es ist für alle, die schreiben, tödlich, an ihr Geschlecht zu denken", zitiert sie Virginia Woolf. Frappiert frage ich nach.

Schon stecken meine Freundin und ich mitten in einem Gedankenaustausch – zu dem gehört auch, dass sie mir zukommen lässt, woran sie arbeitete: an einer Neuübersetzung des Woolf’schen Werks für den Kampa-Verlag.

Zur Tödlichkeit des Gedankens an das eigene Geschlecht aber schreibt Antje: "Im Geschlecht sah Woolf ein Attribut, das immer nur aufs Weibliche bezogen wird. Männer, die historisch gesehen als normbildend gelten, werden gar nicht erst mit dem Geschlechtsattribut versehen. Das Attribut dient also dazu, das von der Norm Abweichende, das Andere oder, in Woolfs Worten, ,die Außenseiterin‘ zu markieren.

Fabrizierte Hierarchie

Die Kategorie Geschlecht kommt nicht ohne Hierarchie aus, eine historisch und kulturell fabrizierte Hierarchie, und dagegen spreche ich mich aus. Sowohl im Schreiben als auch im Leben halte ich Kategorien des Entweder-oder, die nach Ein- und Ausschlussprinzipien funktionieren, für tödlich. Ich stimme für ,Sowohl als auch‘." Sie fügt ein weiteres Woolf-Zitat hinzu: "Angesichts der Weite und Vielfalt der Welt (sind) zwei Geschlechter ziemlich unzureichend."

Den Essay Ein Zimmer für sich allein las ich zum ersten Mal als junge Studentin der Literaturwissenschaft, die gerade erste kleinere literarische Publikationen erlebte und Mutter geworden war; ein privates Detail, das wichtig ist, weil es verständlich macht, weshalb mich damals bereits der Titel, aus einer Wühlkiste gezogen, wie ein Keulenhieb traf, kämpfte ich doch gerade – um ein Zimmer für mich allein, einen Raum, wenigstens stundenweise, ein wenig Ruhe, um zu denken. Und um ausreichend Schlaf.

Liebe zur Freiheit

Ich blättere zu Antjes Nachwort vor: "Geschlechtsbewusstsein bindet die Frau an ihre historisch-biografische Position der Machtlosen, der Außenseiterin, was Widerstand und Zorn auslöst, und zornig schreibt es sich so schlecht wie hungrig." Es störe, vermerkt sie, "Integrität und Klarheit eines Werkes", und sie fährt fort, sie lese dies so, dass es "für alle, die leben, tödlich" sei, "an ihr Geschlecht zu denken".

Wer jedoch nicht daran denkt, spricht auch nicht darüber, fordert keine andere Lebensweise und Gesellschaftsform ein, oder? Steckt darin auch eine Kritik an Kampagnen wie #MeToo oder – auf literarischer Ebene – #VorschauenZählen? "Ganz und gar nicht", schreibt Antje zurück: "Die #MeToo-Debatte ist in Deutschland noch gar nicht angekommen. Denn während in den USA oder Schweden bei vielen eine Aufmerksamkeit dafür geweckt wurde, wie sehr sexualisierte Gewalt unseren Alltag durchdringt (und welche Gefahr sie für eine demokratische Gesellschaft darstellt), legte sich im altmodisch-patriarchal vor sich hin dümpelnden Deutschland schnell der hohe Ton des Verharmlosens und Lustigmachens über jede Auseinandersetzung.

Wozu die Schubladen?

Ich halte sowohl #MeToo als auch das Aufzeigen jeglicher Benachteiligungen in Zusammenhang mit geschlechtlicher Zuschreibung für enorm wichtig. Und doch braucht es noch eine weitere Strategie: auf den Kern des Übels hinzuweisen. Und der liegt eben in der Kategorie Geschlecht selbst. Ist es nicht seltsam?

In einer so freiheitsliebenden, individualistischen Gesellschaft unterwerfen wir uns in vorauseilendem Gehorsam einer extremen, lebenslangen Freiheitsbeschränkung. Kaum jemand begehrt auf gegen den Zwang, sich in einem von genau zwei bei Geburt zugeteilten Körpermodellen einzurichten, zwischen denen man nicht einmal wählen kann! Freiheitsliebe also nur dann, wenn wir sie aus einer ultragesicherten und festgezurrten Position heraus einfordern können?"

Wenn die Freundin recht hat, hat sie recht! Wozu die Schubladen? Nennen wir es doch schlicht "ich", "du", "wir"? Bloß dass die erste Möglichkeit bereits den nächsten Fallstrick spannt. Virginia Woolf wäre damit nicht zufrieden, schreibt sie doch zu Beginn ihres Essays: "Ich ist nur ein brauchbares Wort für jemanden, den es nicht wirklich gibt." Im Essay selbst wählt sie sich ein lyrisches Ich, das zwar Bezüge zum empirischen Ich aufweist, insbesondere im Intro, sich aber dennoch dahinter verbirgt.

Kein Spiegel sein

Und in Antje Rávik Strubels Nachwort, wie ist da das erzählende Ich beschaffen? Der Fokus liegt auf einer "Frau in Rot", die von ihrem Begleiter fordert: Zieh deinen Schatten aus dem Foto, das du von mir machst! Von dort schwenkt der Blick des wahrnehmenden Ichs auf eine Gruppe weltfremd wirkender Professoren, deren Beobachtung der Welt, wodurch es auffallend in den Hintergrund tritt.

Ich hake bei Antje nach und erhalte die Antwort: "Mal abgesehen von dem Allgemeinplatz, dass ,Ich‘ eine sehr zwiespältige und trügerische Angelegenheit ist, da es das konkreteste und zugleich das allgemeinste Wort der Sprache ist, denn auf jeden trifft es zu, halte ich eine explizite Ich-Setzung im Text oft für überflüssig. Das Ich konstituiert sich ja aufgrund dessen, was es wahrnimmt. Es ist in einer Wahrnehmung immer schon vorhanden. Mir scheint es nur dann geboten, zu erwähnen, dass ich jetzt tue, was ich tue, rieche oder sehe, was ich rieche oder sehe, wenn diese Behauptung im Widerspruch zum Geschehen steht. Dieses Problem wird in den derzeit wie am Fließband produzierten halbautobiografischen Texten mit ihren großzügig ausgestreuten Ichs nicht erkannt. Diesen jungen ,autofiktionalen‘ Autorinnen und Autoren wäre Marlen Haushofers Die Wand zu empfehlen; eine der aufregendsten Ich-Erzählungen der Weltliteratur."

Darin verweigert die Protagonistin auch die Ausrichtung auf das Außen. Wenn die Frau, so schreibt Virginia Woolf, dem Mann kein Spiegel wäre, der seine Person, sein Wirken aufs Doppelte vergrößerte, würden wir noch immer in den Anfängen der Menschheit stecken, denn dem "Spiegel" sei es zu verdanken, dass die Lebenskraft aufgeladen, das Nervensystem stimuliert werde; würde dem Mann das Echo genommen, er könnte sterben.

Ohne Echo

Verständlich, denn der Wunsch nach Anerkennung ist zutiefst menschlich. Ohne Echo erlahmt die Kraft. Mich dünkt, Woolfs verdoppelnder Zerrspiegel ist bis heute Realität: Das Schaffen der Männer wird vergrößert, das Arbeiten und Wirken der Frauen verkleinert – und somit eine Begegnung auf Augenhöhe verwehrt. Das ist ein Faktum. Kein Grund zur Jammerei, sondern Anlass, anders zu agieren, anders auf die Umwelt einzuwirken.

Noch ein Wort zum Literaturbetrieb. Denn auch da sind die Zerrspiegel nicht gänzlich entsorgt. Beispielsweise erstaunt mich regelmäßig die Ignoranz gegenüber einer literarischen Tradition, die auch Schriftstellerinnen mitdenkt. In fast keiner Rezension, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, wird auf Schriftstellerinnen rekurriert, sobald es um Traditionen geht, auf die ein Gegenwartsautor oder eine Gegenwartsautorin zurückgreift; als Vorbilder gelten offenbar nach wie vor ausschließlich Männer.

Dabei haben wir seit mindestens 200 Jahren durchaus Schriftstellerinnen, die einige der männlichen Vorbilder, gäbe es nicht den Zerrspiegel, wohl eher kleiner aussehen lassen würden. (Marlen Schachinger, ALBUM, 28.3.2021)