In Foren, die sich gezielt ihrem Hass auf Frauen widmen, gibt es kein Regulativ mehr, sagt Susanne Kaiser.

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Das wachsende Phänomen des radikalen und organisierten Frauenhasses im Netz ist die Spitze eines gesamtgesellschaftlichen Phänomens, sagt die Autorin Susanne Kaiser, die sich für ihr aktuelles Buch mit der Mannosphäre im Internet befasst hat. Die Stimmung in derartigen Foren, etwa jenen der Incels – unfreiwillig enthaltsamer Männer –, beschreibt sie als unvorstellbar.

STANDARD: Ist in den vergangenen Jahren die Maskulinsten-Szene wie etwa jene der Incels größer geworden? Oder gibt es dafür heute einfach mehr Aufmerksamkeit?

Kaiser: Die Aufmerksamkeit ist sicher gestiegen, aber das hängt auch mit der Aktivität der Mannosphäre und besonders der Incels-Szene zusammen, die unglaublich zugenommen hat. Nach Gewaltaufrufen wurden Unterforen bei Reddit gesperrt, die über 10.000 Mitglieder hatten. Es ist schwer zu sagen, wie viele es genau sind, weil alles anonym ist und man mehrere Accounts haben kann. Aber eine Studie, die 30 Millionen Aktivitäten von sechs Millionen Usern auseinandergenommen hat, konnte zeigen, dass die gegenseitige Vernetzung der Szene einen Auftrieb verleiht. Da sind dann nicht nur Incels, es vernetzen sich Männerrechtler, Pick-up-Artists oder Male Supremacists. Diese Vernetzung reicht bis in die rechte Szene hinein, die genuin misogyn ist.

STANDARD: Warum?

Kaiser: Die rechte Szene hat eine frauenhassende Ideologie. Der Feminismus wird als eine Art Einfallstor für "fremde Rassen" konstruiert, die die europäischen "weißen Rassen" bedrohen würden. Das wird durch die Folie der Incels und anderer Maskulinsten jetzt erst so richtig gesehen. Obwohl wir schon sehr früh Studien dazu hatten, etwa mit Klaus Theweleits "Männerphantasien" in den frühen 1980er-Jahren. Die verschiedenen Gruppen sammeln sich nicht nur, sie vernetzen sich und machen ihre Ideologien untereinander anschlussfähig. Die verschiedensten Gruppierungen haben als gemeinsames Feindbild den Feminismus, er wird in verschwörungstheoretischer Manier für die verschiedensten Missstände in der Gesellschaft verantwortlich gemacht. Bei den Incels geht es darum, dass es der Feminismus ermöglicht hat, dass Frauen selbst entscheiden, mit wem sie zusammen sein wollen. Incels würden Frauen gern wieder zuteilen und unterwerfen. Bei Rechtsextremen geht es um die Möglichkeit, die der Feminismus geschaffen hat, dass Frauen Karrieren machen dürfen und deshalb entweder gar keine Kinder mehr oder keine mit weißen Männern bekommen. So werden die verschiedenen Ideologien anschlussfähig gemacht. Das hat eine Sogwirkung.

Susanne Kaiser, "Politische Männlichkeit – Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen". Euro 18,50 / 168 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin
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STANDARD: Es handelt sich also um ein Phänomen, das nur durch das Netz möglich wurde?

Kaiser: Ja, ich würde sogar sagen, der ganze reaktionäre Backlash der vergangenen 20 Jahre hat mit dem Netz zu tun. Durch das Internet sind Frauen und Minderheiten sichtbar geworden. Eine Bewegung wie #MeToo wäre in unserer analogen und patriarchal strukturierten Welt gar nicht denkbar gewesen. Sie wirkt aber in unserer analogen Welt, wir haben ja gesehen, wie diese großen Männer gefallen sind. Es gibt also große Möglichkeiten für politische Minderheiten, aber genauso bietet das Internet die gleichen Möglichkeiten für die reaktionäre Gegenbewegung. Und das ist genau das, was wir jetzt sehen: Diese Gegenbewegung sammelt und organisiert sich, ruft zu Gewalt auf und hat ein geschlossenes Weltbild, in dem es um Anschläge und Umstürze geht.

STANDARD: Aber weitverbreiteten Frauenhass gibt es tatsächlich schon länger als das Netz.

Kaiser: Ja, und es gab auch schon immer Männer, die keine Frauen ins Bett kriegen konnten oder nicht verheiratet waren. Aber Incels sind sozial inkompetent, sie sind Soziophobiker. Viele Manifeste zeigen, dass sie von frühester Kindheit an Probleme hatten, Freunde zu finden. Sie waren oft auch schon sehr früh sexistisch, haben zum Beispiel riesige Ansprüche an ihre Mutter, Elliot Rodger (Anm.: Rodger tötete 2014 in der Nähe der University of California in Santa Barbara sechs Menschen) ist dafür ein Beispiel. Es ist also oft schon früh sozial sehr viel schiefgelaufen. Wenn diese Typen dann womöglich keine Ausbildung haben und den ganzen Tag vor dem Rechner sitzen, können sie Dinge tun, die sie in der analogen Welt nicht tun könnten, weil ihnen die Kompetenzen fehlen: Sie finden im Netz Gleichgesinnte und organisieren sich – und steigern sich gemeinsam im Hassspiralen rein. Es gibt dann auch kein Korrektiv, in der Kneipe am Stammtisch ist vielleicht irgendjemand, der eine andere Meinung hat. Aber in Internetforen, die sich für einen bestimmten Zweck zusammenfinden, gibt es das nicht. So kann man die Radikalisierung erklären.

STANDARD: Wie kann man sich die Stimmung in diesen Foren vorstellen?

Kaiser: Das kommt darauf an, wo man sich aufhält, aber in richtigen Incels-Foren ist die Stimmung suizidal bis selbstermächtigend-aufwieglerisch. Wenn man das zum ersten Mal sieht, kann man sich erst gar nicht vorstellen, dass so etwas möglich ist, aber das ist es offenbar. Die Atmosphäre in diesen Foren ist bedrohlich, düster und gewalttätig. Die Leute, die miteinander debattieren, versuchen sich immer gegenseitig in den Suizid zu treiben. Es gibt für die Incels-Problematik nur zwei Lösungen: Die eine ist der Suizid, die andere ist der Gesellschaftsumsturz durch Terroranschläge – und dazwischen bewegt sich die Stimmung in diesen Foren. Es wird viel Gewalt gegen Frauen propagiert, es werden – auch echte – Videos geteilt, wie Frauen geschlagen und umgebracht werden. Das ist auch immer der Anlass, dass solche Foren dann geschlossen werden – wie jetzt gerade eines der größten überhaupt, incels.co.

STANDARD: Wird die Verzahnung von Rechtsradikalismus, Terror und Frauenhass in ihrer Systematik von den Behörden wahrgenommen?

Kaiser: Nein. Die Art, wie wir über Incels sprechen, ist dafür paradigmatisch. Es wurde eine Gruppe von Extremisten identifiziert, die alle wahnhaft sind. Sie werden zwar nicht mehr nur als Einzeltäter identifiziert, sondern als Gruppe, aber eben als eine extremistische.

STANDARD: Aber was ist das Problem daran?

Kaiser: Es wird so getan, als wäre das ein wesentlicher Unterschied zur Breite der Gesellschaft, es ist aber kein wesentlicher Unterschied, sondern ein gradueller. Es ist die extreme Spitze eines gesamtgesellschaftlichen Problems. Misogynie, Frauenhass und Sexismus sind immer noch weitverbreitet, wir sehen das jeden Tag. Das geht bis in die Grundordnung unserer Gesellschaft, deshalb wird immer wieder versucht, das Phänomen Frauenhass gewissermaßen auszulagern und es zu einem Extremistenphänomen zu machen. Doch es geht darum, die patriarchalen Strukturen zu verändern, und das ist eine riesige gesellschaftliche Aufgabe. Doch genau deshalb wird es immer wieder unsichtbar gemacht, das sehen wir gut an der Femizid-Debatte. In Deutschland ist es fast unmöglich durchzubekommen, dass das als Mord an Frauen, weil sie Frauen sind, behandelt wird. Das auch nur zu benennen ist kaum möglich, es soll lieber eine Familientragödie bleiben.

STANDARD: Gibt es einen nachweislichen Zusammenhang zwischen Hass im Netz und physischer Gewalt gegen Frauen?

Kaiser: Der Hass im Netz bildet nicht nur ab, was in der analogen Welt los ist, sondern er wirkt auch wieder zurück in die analoge Welt. Manche steigern sich durch den Hass im Netz nicht nur hinein und radikalisieren sich, sondern werden dadurch erst inspiriert. So findet auch eine Normalisierung von Hass, Gewalt und sexistischen Sprüchen statt. Wir sehen oft auch, dass Frauen durch Hasskommentare aus bestimmten Plattformen rausgemobbt werden, etwa wenn Frauen als Expertinnen auftreten oder sich in anderen Männerdomänen bewähren. Die Behörden sehen diesen Zusammenhang zwischen Hass im Netz und Gewalt in der analogen Welt nicht. Sie tun sich schon mit Rechtsextremismus schwer, das zeigte sich spätesten seit dem NSU-Prozess, und wir haben es auch beim Halle-Attentäter gesehen. Dass Misogynie ein Tatmotiv sein könnte, das ist bei uns noch nicht angekommen. In Nordamerika ist das schon viel länger ein Thema. Bei uns ist es inzwischen zwar schon in der Popkultur angekommen, wie kürzlich beim "Tatort" (Anm.: Unter dem Titel "Borowski und die Angst der weißen Männer" verhandelte die Krimireihe Anfang März organisierten Frauenhass durch Incels), aber nicht in der echten Polizeiarbeit.

Susanne Kaiser: Beim "Tatort" ist das Thema Incels angekommen, bei der echten Polizeiarbeit noch nicht.

STANDARD: Was würde es verändern, wenn Frauenhass bei Terrorakten als Motiv auf dem Radar wäre?

Kaiser: Es wäre bei Terrorakten wichtig, aber noch viel wichtiger wäre es bei Femiziden. Es müsste in die Kriminalstatistik miteinfließen, damit man sich damit wissenschaftlich auseinandersetzen kann, damit wir mehr über die Muster von Gewalt gegen Frauen lernen. Genau das ist sehr schwer, solange dieses Thema so diffus verhandelt wird. Für Terrorismus wäre es wichtig, weil wir erkennen würden, dass es Ideologien gibt, die zum einen gefährlich verschmelzen und zum anderen schon an sich gefährlich sind. Für so etwas wie Male Supremacy, dafür gibt es nicht mal ein deutsches Wort. "Männliches Überlegenheitsdenken" ist einfach eine viel zu schwache Übersetzung. Über so etwas wie Male Supremacy sprechen wir bei uns nicht, da sind die USA und Kanada schon viel weiter. Auch UN-Women, die Organisation der Vereinten Nationen, spricht von einer Epidemie der Gewalt gegen Frauen in Hinblick auf Femizide. Doch im kollektiven Gedächtnis ist das noch nicht angekommen. Deshalb wäre es wichtig, dass sich auch der Umgang der Behörden mit bestimmten Straftatbeständen ändert, denn das ändert unser Denken darüber, was normal ist, was geduldet wird und was nicht. Wenn wir immer von Familiendramen reden, von Eifersuchtsmorden, von Morden, in denen es irgendwie um "Liebe" statt um total krasse Besitzansprüche, Minderwertigkeitsdenken und Hass gegenüber Frauen geht, dann halten wir damit das System der Gewalt gegen Frauen aufrecht. (Beate Hausbichler, 28.3.2021)