Homeschooling, Zoom-Meetings, Telemedizin – Videokonferenzen sind fester Bestandteil des Alltags geworden. Doch nach über einem Jahr Pandemie ist man sich der Grenzen dieser Technologie bewusst. Zoom-Fatigue lässt grüßen. Schon bald aber könnte es andere virtuelle Begegnungsformen geben.

Microsoft hat vor ein paar Wochen auf seiner jährlichen Ignite-Konferenz eine neue Plattform (Microsoft Mesh) präsentiert, über die dreidimensionale Videostreams mittels Augmented-Reality-Brillen übertragen werden. Statt mit Webcams in einer Videokonferenz trifft man sich als Avatare in einem virtuellen Raum. Mittels "Holoportation" wird ein lebensechtes 3D-Abbild in ein virtuelles Setting eingefügt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Wo die zwei wirklich sind, könnte demnächst irrelevant werden. Aber was wäre dann beispielsweise mit Mobbing oder sexueller Belästigung?
Foto: Getty Images

Medizinstudenten aus aller Welt könnten sich zum Beispiel aus ihrem WG-Zimmer mit VR-Headset in einen virtuellen Hörsaal einklinken und an einem holografischen Modell die Anatomie des Körpers studieren; Ingenieure aus aller Welt könnten in einer virtuellen Werkstatt an einem Motor schrauben, Geschäftspartner aus verschiedenen Kontinenten an einem Sitzungstisch zusammentreffen. Mixed Reality nennt man die Verschmelzung von realer und virtueller Welt.

Sich teleportieren

"Man fühlt sich tatsächlich so, als wäre man am selben Ort mit jemandem, der Inhalte teilt, oder man kann sich von verschiedenen Mixed-Reality-Geräten teleportieren und mit Leuten zusammen sein, auch wenn man nicht physisch an einem Ort ist", sagte Microsoft-Entwickler Alex Kipman. Der Softwareingenieur gilt als Mastermind von Microsoft: Er war maßgeblich an der Entwicklung der Datenbrille Hololens und der Spielkonsole Xbox Kinect beteiligt.

Wer Kipman mit seinem brasilianischen Singsang-Englisch mal auf einer Konferenz erlebt hat, sah keinen Schaumschläger auf der Bühne, sondern einen Visionär. Bei der Demonstration von Microsoft Mesh sagte Kipman einen Satz, der in den Pressemeldungen völlig unterging: "Hauptquartiere sind nicht mehr an einen bestimmten physischen Ort gebunden." Geht es nach den Vordenkern im Silicon Valley, braucht es in Zukunft keine Flugreisen und Videokonferenzen mehr. Man trifft sich einfach im Cyberspace.

Die Vision ist nicht neu. Der französische Philosoph Jean Baudrillard postulierte schon in den 1980er-Jahren das "Ende des Raums", und der Schriftsteller William Knoke entwarf in seinem Buch Kühne neue Welt aus dem Jahr 1996 die Utopie einer ortlosen Gesellschaft ("placeless society"), in der Orte keine Rolle mehr spielen. Ein Versicherungsvertreter, so Knokes Vision, könne von zu Hause aus arbeiten und "telependeln". Diese Vorstellung erschien angesichts der digitalen Technologien zwingend, aber auch irgendwie papieren. Zwar gibt es die Hardware schon länger – auch Headsets wie etwa Oculus Rift oder Magic Leap One. Doch die klobigen Datenbrillen waren alles andere als massentauglich. Jenseits der Industrie oder Gaming-Nische kamen die teuren Geräte kaum zum Einsatz. Was fehlte, war eine Killer-App. Das könnte nun die Corona-Pandemie forcieren.

Meetings in virtueller Realität

Im vergangenen Jahr hat das Start-up Spatial eine vielbeachtete App für Oculus Quest lanciert, mit der Meetings in virtueller Realität möglich sind. Mit der Datenbrille taucht man in eine virtuelle (Arbeits-)Welt ein, in der man seine Kollegen in Gestalt von fotorealistischen Hologrammen trifft – ohne Abstand und Mund-Nasen-Schutz, denn in der virtuellen Realität gibt es keine Ansteckungsgefahr. Zimmerpflanzen, Büromöbel, Räume – all das lässt sich detailgetreu modellieren. Die Grafik erinnert ein wenig an die Simulation Second Life, die in den Nullerjahren für Furore sorgte. Die Besonderheit von Spatial: Die App unterstützt das controllerfreie Handtracking des Oculus Quest.

Das heißt: Jedes Mal, wenn man seinen Kopf oder seine Hände bewegt, tut es der virtuelle Körper einem gleich. Als wäre es eine Schattenfigur. Mithilfe von 3D-Objekten lassen sich Dinge visualisieren oder Post-its an virtuelle Tafeln hängen. Auch Google lässt sich in der VR-App nutzen. Gesten, Mimik und Körpersprache können durch die Tracking-Funktion sehr präzise in das Medium übersetzt werden. Man sieht zum Beispiel, wenn der Kollege lächelt oder den Kopf schüttelt. Sogar immersive Erfahrungen wie Handshakes und Umarmungen sind dank der Technik möglich.

Auch Facebook ist in das Geschäft eingestiegen. Der Konzern hat im vergangenen Jahr mit Horizon eine VR-Plattform lanciert, wo sich Nutzer per Headset zusammenschalten und eigene virtuelle Welten kreieren können. Facebook will noch in diesem Jahr sein Feature "Infinite Office" präsentieren, wo man den eigenen Arbeitsplatz in die Oculus-Brille beamt. Per Gestensteuerung werden virtuelle Bildschirme bedient, wer eine Nachricht schreiben will, hackt dies nicht mehr in die Tastatur, sondern bewegt seine Finger in der Luft. Sieht so die Zukunft der Arbeit aus?

"Motion-Sickness"

Schaut man sich die Demoversionen an, hat die Technik noch Entwicklungspotenzial. Die Avatare wirken zuweilen etwas pappkameradenartig, die Bewegungsabläufe hölzern. Die Frage ist, ob man an der virtuellen Arbeitsstätte so produktiv wie im physischen Raum ist und der Chef als Avatar dieselbe Autorität wie im echten Leben ausstrahlt.

Manche VR-Nutzer und Versuchsteilnehmer berichten von Übelkeit und Schwindel. Die sogenannte Motion-Sickness könnte eines Tages so pathologisch werden wie die Zoom-Fatigue. Gewiss, diese Dinge lassen sich optimieren. Doch die Frage, wann und wie schnell VR-Meetings in der Arbeitswelt ankommen, hängt nicht allein von der Technik, sondern auch von der Ethik ab.

Die Frage ist: Welche Spielregeln gelten im virtuellen Raum? Dieselben wie im physischen Raum? Vor allem: Wer legt sie fest? Was ist, wenn der Kollege mit seinem Avatar den Avatar einer Kollegin begrapscht? Ist das dann sexuelle Nötigung? Oder bloß eine frivole Anzüglichkeit, die in einem spielerischen Setting passiert und daher nicht ernst gemeint ist? Was ist, wenn man mit seinem Hologramm von Kollegen gemobbt wird? Ist das dann auch nur ein Spiel? Ist eine in virtueller Realität ausgesprochene Kündigung rechtswirksam? Bevor diese Fragen nicht geklärt sind, wird die vollkommen ortlose Arbeitswelt eine Utopie bleiben. (Adrian Lobe, 28.3.2021)