Was ist schon normal? Piccininis Skulpturen offerieren einen emotionalen Trip zwischen Forschungslabor und Familienfest.
Foto: Patricia Piccinini, Teenage Metamorphosis, 2017

Man steht inmitten eines dunklen Felds und ist umgeben von Ähren. Ihre Formen variieren: Mal sehen sie aus wie fleischfressende Pflanzen, dann erinnern sie an innere Organe. Unsicher folgt man dem Weg durch diese unheimliche Landschaft. Ein Zirpen tönt wie ein Flüstern durch das Feld. Man ist nicht alleine hier!

Ein kleiner Bub steht da ganz alleine. Kommt man ihm näher und sieht sein Gesicht, ist man sich aber nicht mehr sicher: Ist er doch ein Äffchen? Warum aber trägt er Kleidung und Sportschuhe? Auch ein robbenartiges Wesen in einem Trikot trifft man zwischen den Ähren an. Gewitzt turnt es auf dem Rücken einer Ziege – seine zu einer Art Flosse gewachsenen Beine in die Luft gestreckt. Spätestens jetzt ist die Frage, ob man sich gerade in einem skurrilen Traum, Film oder auf einem Horrortrip befindet, unausweichlich. What the fuck?

Ein beleuchtetes Zelt am Rand des Felds lässt auf Antworten hoffen. Kleidungsstücke und Campingutensilien lassen sich wie Spuren ebenfalls Gestrandeter lesen. Auf den ersten Blick meint man, ein nacktes Paar im Feldbett erwischt zu haben. Entschuldigend möchte man sich abwenden, da erblickt man die messerscharfen Krallen, die unter der Decke hervorschauen.

Ekel, Irritation und andere Emotionen

Diese absurde Szenerie spielt sich in der Ausstellung Patricia Piccinini. Embracing the Future in der Kunsthalle Krems ab, die heute eröffnet. Mit etwa 50 Skulpturen aus den letzten 20 Jahren wird der australischen Künstlerin damit erstmals im deutschsprachigen Raum eine Einzelausstellung gewidmet.

Piccinini ist bekannt für ihre hyperrealistischen Hybridwesen, die sie mit tierischen und menschlichen Zügen ausstattet und als lebensgroße Figuren aus Silikon, Plastik und Echthaar erschafft. Ein ganzes Team in Melbourne ist daran beteiligt, die Produktion der mit beeindruckender Präzision entworfenen Geschöpfe nimmt Wochen in Anspruch.

"The Bond": Nackt, faltig und knorpelig. Eigentlich wie alle anderen Babys.
Foto: Patricia Piccinini, "The Bond", 2016

Überwindet man den anfänglichen Ekel und die folgende Irritation, nehmen andere Emotionen den Platz ein. Ungläubig steht man vor einer menschlich anmutenden Frau, die fürsorglich ein nacktes, verknorpeltes Wesen umklammert. Mit seinen kleinen Händchen, dem zarten Haarschopf und den unschuldigen Augen ist das Ding genauso hilflos und liebesbedürftig wie alle anderen Babys.

In The Welcome Guest steigt eine pelzige Gollum-Kreatur in das Bett eines Mädchens, am liebsten möchte man eingreifen. Erblickt man aber das lächelnde Gesicht und die vertraute Geste des Kindes, weiß man: Hier ist alles in Ordnung. Vielleicht sind ja alle Monster unter dem Bett so freundlich?

Grantige Vaterbrüter

Piccinini gelingt es mit ihren ambivalenten Arbeiten, deren Formen sie der Natur und insbesondere der australischen Tier- und Pflanzenwelt entleiht, wichtige ethische Fragen in den Raum zu werfen, ohne sie offen stellen zu müssen. Was gilt für uns als normal? Mit welchem Recht stellt sich die Spezies Mensch über jegliche andere? Wie kann würdevoll mit Andersartigem umgegangen werden? Und wer sagt überhaupt, wie Körper aussehen können, dürfen, sollen?

Changierend zwischen Science-Fiction, künstlichem Körperkult und Elternschaft jeglicher Art, ist die Schau eine Mischung aus Forschungslabor und futuristischem Familientreffen. Da quellen glitschig-glänzende Eier aus einem fleischigen Pflanzenkörper oder klettern menschlich wirkende Kinder über den Rücken einer Orang-Utan-Dame (ja, wir sind eigentlich auch nur Affen!). In The Eagle Egg Man brüten Geschöpfe mit (sehr grantigen) Männergesichtern in Nestern aus runzeliger Haut ihre Eier aus.

Unsere Zukunft? "The Young Family" wurde 2003 auf der Biennale in Venedig gezeigt.
Foto: Graham Baring

Was an manchen Stellen kurios und durchaus witzig anmutet, ist es spätestens bei The Young Family nicht mehr. Mit der Installation, die in einem separaten Raum präsentiert wird, bespielte Piccinini 2003 den australischen Pavillon auf der Venedig-Biennale. Nackt und mit angezogenen Gliedmaßen liegt da ein Wesen mit langen Schlappohren und säugt seine Neugeborenen. Doch das Umfeld ist steril, der Blick der Mutter verstört und verängstigt. Kurator Florian Steininger spricht dabei von Organspenden zwischen Tier und Mensch sowie genetischen Manipulationen – sieht unsere Zukunft wirklich so aus?

Die Ausstellung ist eine heftige Gefühlsverkettung von Ekel, Zuneigung und Mitleid – und konfrontiert einen subtil mit eigenen Ängsten und Vorurteilen. So etwas spürt und sieht man tatsächlich nicht alle Tage. Es mag eigenartig klingen, aber steht man diesen abstoßenden und zugleich ästhetischen Geschöpfen real gegenüber, strahlen sie eine unglaubliche Würde aus. Man hat Respekt vor ihnen. Warum auch eigentlich nicht? (Katharina Rustler, 27.3.2021)