27 EU-Staats- und -Regierungschefs – hier Spaniens Premier Pedro Sánchez – trafen den US-Präsidenten: via Internet.

Foto: Borja Puig de la Bellacasa / LA MONCLOA / AFP

Es war ein Tag der Premieren für Joe Biden. Zuerst hielt er am Donnerstag in Washington seine erste offizielle Pressekonferenz als 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ab, bei der er unter anderem eine Verdoppelung der ohnehin schon rasanten Impfgeschwindigkeit in seinem Land ankündigte – als Europäer konnte man diesbezüglich vor Neid erblassen. Und dann absolvierte er eine Visite im virtuellen Brüssel: beim Gipfeltreffen der 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union.

Eine solche Begegnung war dann auch eine Premiere für die meisten zugeschalteten EU-Politiker: Denn man schrieb das Jahr 2009, als ein US-Staatsoberhaupt einem Brüsseler Gipfel zuletzt die Ehre gegeben hatte: Es war am Beginn der ersten Amtszeit von Barack Obama – damals freilich in physischer Form.

Und Neuigkeitswert – vergleicht man die Stimmung am Donnerstag mit den vier Jahren zuvor unter Donald Trump – hatte dann auch die Ausrichtung der Gesprächsthemen der transatlantischen Staats- und Regierungschefs: gemeinsamer Kampf gegen die Corona-Pandemie, gemeinsames Bemühen um Eindämmung der Erderwärmung, gemeinsames Engagement zur Stärkung der beiderseitigen Handelsbeziehungen.

Auch Themen abseits von Corona

Doch neben der nervenaufreibenden Debatte um die Impfstoffverteilung in der EU für die kommenden Wochen und dem hohen virtuellen Besuch aus Washington konnten sich die Gipfelteilnehmer doch auch mit anderen Themenkreisen beschäftigen – denn diese gibt es nach wie vor.

Besondere Dringlichkeit hatten auf der Gipfel-Tagesordnung die Beziehungen zur Türkei. Die Beitrittsgespräche liegen seit langer Zeit auf Eis, Brüssel und Ankara driften nach wie vor auseinander, statt sich aufeinander zuzubewegen. In ihrer gemeinsamen Erklärung stellen nun die 27 EU-Staats- und Regierungschefs der Türkei konkrete Belohnungen in Aussicht, wenn sie weiter an einer Deeskalation des Erdgasstreits im östlichen Mittelmeer arbeiten. Details dazu sollen aber erst beim nächsten regulären EU-Gipfel im Juni entschieden werden.

Heikles Thema Menschenrechte

Ebenfalls Erwähnung findet im Schlussdokument des Gipfels die prekäre Menschenrechtssituation in der Türkei: Das Thema bleibe ein "zentrales Anliegen" der EU. Kürzlich war Ankara aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt ausgestiegen. Das hatte international für Kritik gesorgt, ebenso wie ein Verbotsantrag gegen die prokurdische Oppositionspartei HDP. Vor allem seit dem Putschversuch gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2016 – es kam in der Folge zu zehntausenden Festnahmen, Verhaftungen und zahlreichen Verurteilungen – steht die Menschenrechtsproblematik in der Türkei wieder hoch oben auf der EU-Agenda.

Im Zusammenhang mit den Konfliktfeldern in deren Nachbarschaft – Libyen, Syrien, Kaukasus – wird die Türkei von der EU aufgefordert, konstruktive Beiträge zu liefern. Der Hohe EU-Beauftragte für Außenpolitik, der Spanier Josep Borrell, soll sich um die Installation einer multilateralen Konferenz für die östliche Mittelmeerregion bemühen. Dabei soll es auch um die Komponente Migrationspolitik gehen.

Und zu welchen Gegenleistungen wäre die EU bereit? Die Staats- und Regierungschefs sprechen von der Aussicht auf eine ausgeweitete Zollunion sowie auf eine von der der Türkei herbeigesehnte Visafreiheit. Im Fokus der europäischen Interessen steht freilich die Lösung des Konflikts der Türkei mit Griechenland und Zypern – Stichwort: Erdgasvorkommen vor den EU-Küsten. Die Konflikte darüber führten zuletzt zu Sanktionsdrohungen gegen die Führung in Ankara.

"Positive Agenda" gefragt

Wie reagiert die Türkei auf die Ermahnungen und Verheißungen aus Brüssel? Mit Kritik. Auch wenn man die Betonung der "Notwendigkeit einer positiven Agenda" ernst nehme, bleibe die EU weiter "einseitig" und "engstirnig". Doch Staatschef Erdoğan plagen andere Sorgen momentan viel mehr: Nach dem jüngsten, wiederholten Absturz der Landeswährung Lira rief er kürzlich seine Landsleute auf, ihre ausländischen Devisen und Goldbestände nicht länger zu horten, sondern im Land zu investieren. Die EU hat dieser Tage beim Präsidenten nur bedingt Priorität. (Gianluca Wallisch, 26.3.2021)